Mal davon abgesehen, daß es sich beim obigen Spruch um eine rechte Phrase handelt, trifft er auf Jackie so gar nicht zu. Ihre Hoffnung ist schon lange gestorben, genauso wie jeder Optimismus. Tagtäglich sitzt die junge Frau vor unzähligen Überwachungsmonitoren, fahndet nach Verstößen, partizipiert am Leben fremder Menschen – und vernachlässigt das eigene. Bis sie eines Tages ihn sieht, den Mann, welcher ihr alles genommen hat. Anfangs noch unsicher, verfolgt Jackie seine Spur, nähert sich ihm immer weiter, taucht in eine Vergangenheit voller Schmerzen ein ...
All das ist – zum Glück – eben keine Eine-Frau-sieht-Rot-Story, Jackie soll und kann nicht die Charlene Bronson geben. Dafür haben sich ihre Wunden zu tief in die Seele gegraben, es geht der verhärmten Frau kaum um Rache, sie möchte verstehen, aufarbeiten, eventuell sogar vergeben, was unsühnbar scheint. Sie hat keinen Plan, um den Zerstörer ihrer Existenz zur Strecke zu bringen, keine Knarre, ihn zu richten, noch nicht einmal den helfenden Zufall, wie er in gängigen Rachestories so gern zum Einsatz kommt. Nein, Jackie hat nur sich selbst und die mentalen Narben. Sie wird mit dem nominellen Monster tanzen, Nähe fühlen – und sich danach angeekelt übergeben. Mit ihm schlafen – und ihre folgende Anzeige wegen Vergewaltigung zurückziehen.
Selten, wenn nicht gar niemals zuvor gelang es einem Film, die Zerrissenheit seiner Hauptperson so drastisch widerzuspiegeln. Entsprechend passiert oftmals gar nichts, steht die Handlung häufig still, während eine fast intime Kamera auf Jackies Augen fokussiert, welche lauern, beobachten oder ganz am Ende endlich weinen, das Leid aus der Seele spülen dürfen. Augenblicke großer humaner Wärme fängt das Objektiv ebenso ein wie unerträglich kalte Momente, gespenstisch scheint die Gefahr überall zu lauern, während Regisseurin und Autorin Andrea Arnold sich als Brecherin bekannter inszenatorischer Regeln erweist. Musik? Unnötig! Dialoge? Nur im Notfall!
Man muß sich ohne Zweifel auf diesen zutiefst irritierenden, beunruhigenden Film einlassen, darf seine Langsamkeit nicht mit Langeweile verwechseln. Auch ist die Bereitschaft nötig, nach knapp zwei Stunden mit unzähligen Fragen nach Hause zu gehen. Eine schwierige, doch lohnende Investition.
Originaltitel: RED ROAD
GB/DK 2006, 113 min
Verleih: Fugu
Genre: Drama
Darsteller: Kate Dickie, Tony Curran, Martin Compston, Natalie Press, Paul Higgins
Stab:
Regie: Andrea Arnold
Drehbuch: Andrea Arnold
Kinostart: 21.08.08
[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...