Originaltitel: REY
Chile/F/NL/D 2018, 90 min
Verleih: Real Fiction
Genre: Drama, Historie, Experimentalfilm
Darsteller: Rodrigo Liboa, Claudio Rivero
Regie: Niles Atallah
Kinostart: 03.01.19
Es ist eine kuriose, fast vergessene Fußnote in den Geschichtsbüchern: 1858 reiste der Anwalt Orllie-Antoine de Tounens aus der französischen Provinz nach Chile, um dort wenige Jahre später im äußersten Süden des Kontinentes das Königreich von Araukanien auszurufen. Angeblich ließ er sich dort von den Häuptlingen der Mapuche-Stämme zu ihrem König krönen. Jedoch war das Land der Indigenen lange zuvor bereits von Chile und Argentinien für ihr jeweiliges Staatsterritorium reklamiert worden. De Tounens Bemühungen um Anerkennung seines neu proklamierten Königreiches scheiterten kläglich. Chile verwies ihn des Landes, mehrere Rückkehrversuche nach Patagonien mißlangen, schließlich starb der Abenteurer verarmt in seiner Heimat.
Diese unglaublich klingende Episode greift der chilenisch-amerikanische Filmemacher und Videokünstler Niles Atallah in seinem surrealistischen Film REY auf. Es geht ihm darin keineswegs um eine akribische Aufarbeitung der tatsächlichen Ereignisse, deren bruchstückhafte Fakten ohnehin kaum mehr greifbar sind. Sie verschwimmen im Nebel der Zeit und der Legendenbildung. Stattdessen spielt Atallah mit diesen Fragmenten, setzt sie neu zusammen und erschafft aus eigenen und historischen Aufnahmen seine Version der Geschichte.
Konsequenterweise verläßt er dafür den breiten Pfad der Kinokonventionen und wagt ein inhaltlich wie formal höchst eigenwilliges Experiment. Realfilmpassagen, die den Anwalt bei seiner Reise durch Patagonien zeigen, wechseln mit Szenen eines Schauprozesses, der ihm später von den Behörden gemacht wird. Dort tragen alle Darsteller Masken, die das Ritualhafte dieses Vorgangs betonen. Das (Alp-)Traumhafte gewinnt im Laufe des Filmes immer mehr die Oberhand. De Tounens steigert sich in Visionen eines imaginären Königreichs der Träume hinein. Patagonien wird zum unerreichbaren Sehnsuchtsland dieses französischen Wiedergängers von Don Quijote.
Um seine schwer faßbare Innenwelt zu bebildern, greift Atallah tief in die Trickkiste der frühen Avantegardefilmkünstler. Er bearbeitet das analoge Filmmaterial direkt mit Einkratzungen und Kolorierungen, einen Teil vergrub er sogar in der Erde. Die korrodierten Negative erzeugen sehr psychedelisch anmutende Bilder. Angesichts der heutigen Dominanz perfekter Hochglanzbilder wirkt REY wie ein erfrischendes Reinigungsprogramm gegen eingefahrene Sehgewohnheiten.
[ Dörthe Gromes ]