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Rize

Außergewöhnliche Doku über den Tanz als Verbeugung vor dem Positiven im Leben

Zu Beginn des Films ist zu lesen, daß die folgenden Bilder nicht beschleunigt wurden. Dieser Vermerk ist auch nötig, denn was nun zu sehen ist, scheint für einen im herkömmlichen Sinne beweglichen Körper schier unglaublich. Der brillante Fotograf David LaChapelle hat junge Menschen in den schwarzen Vierteln von South Central L.A. bei ihrer Flucht vor den manchmal tödlichen Problemen ihres Ghettos gefilmt, eine Flucht, die Artistisches voraussetzt: Clowning und Krumping nämlich. Dahinter verbergen sich Tänze, bei denen es immer so aussieht, als müßten Kopf und Restkörper zwei völlig getrennte Einheiten sein, die erst auf dem Zenit einer Bewegung ihre Untrennbarkeit belegen, da genau dann sich das Moment purer Schönheit einstellt. Angefangen hat Tommy The Clown auf Kindergeburtstagen. Es sprach sich rum, daß der Typ es drauf hat, sich clownesk anzumalen, wortgewandt und witzig zu sein, halsbrecherische Bewegungen auszuführen.

Es gab immer mehr Begeisterte, die seinen Stil aufnahmen, ihn veränderten und mit dem Krumping eine neue Variante kreierten. Hier geht es schon tougher zu, auch wenn Gewalt außen vor bleibt, aber geschubst werden darf. Darüber immer starke, pulsierende Hip-Hop-Musik. Das wäre Stoff für einen 15minütigen Beitrag in der Reihe "Auch das gibt’s" gewesen, doch da LaChapelle auch als Dokumentarfilmer besteht, geht er in die Tiefe. In die familiären Traurigkeiten von Larry, Dragon, Tight Eyez, Baby Tight Eyez, Lil C und Miss Prissy. Sie alle erzählen, was es ihnen bedeutet, keinen Gangs im klassischen Sinne anzugehören, daß sie versuchen, das Negative hinter sich zu lassen, und daß sich gerade beim Clowning das pure Glücksgefühl einstellt, wenn man dort ein Lachen zaubert, wo vorher noch nie eins war. LaChapelle fühlt seinen Helden auf den Zahn, es geht ihnen um Wahrnehmung, Respekt - aber eben ohne große Autos, glitzernde Paläste und fette Klunkern. Ganz nebenbei hebelt LaChapelle damit sämtliche Albernheiten des zur Farce gewordenen Schickeria-HipHop à la P.Diddy aus.

Eine auch sehr amüsante Facette dieses Tanzes nennt sich Poppin’ oder Stripper Dance. Hier geht es vor allem um kurze, zackige und in ihrer Schnelligkeit völlig abgefahrene Hüftbewegungen. Das machen sogar schon Kleinkinder. Auch wenn bei der Performance einer 4jährigen einer der Großen sagt, daß das nun nichts mit Sex zu tun hat - davon gehen wir doch mal aus -, hat dieser Tanzstil schon eine ungestüme, in seiner bizarren Vielfalt auch sexuelle Kraft. Um das zu unterlegen, schneidet LaChapelle gar Bilder von aufreizenden Tänzen der Nuba zwischen. Übrigens die Aufnahmen von der Riefenstahl - und das hätte schief gehen können. Nicht aber bei LaChapelle. Er ist zu versiert im Umgang mit Bildern, kann Kontexte schaffen, wo es erst einmal keine gibt, kann ästhetische Normen und Grenzen aufbrechen, was sich auch in Bildern dieses Films immer wieder zeigt: selbst sehr dicke Menschen, die man erst einmal nicht in diesen peitschenden Bewegungen sehen wollte, werden plötzlich schön. Durch Selbstbewußtsein, Geschick und die daraus resultierende Leichtigkeit in ihren Bewegungen - fernab eines "Kraft durch Freude"-Prinzips.

LaChapelle, der mit seinem genialen Buch "Hotel LaChapelle" eindrucksvoll bewies, wie er das unwirklich Schöne mit dem traurigen Realen verbinden kann, der darin sogar die Natürlichkeit der Regelblutung eines jungen Mädchens zu einem ästhetischen Phänomen machte, spart das Unschöne in seinem Film aber nicht aus. Während eines "Battle" zwischen Clowns und Krumpers wird bei Tommy eingebrochen, das Haus verwüstet. Die Tänzer erzählen von der ständigen Angst, selbst beim Einkaufen erschossen zu werden. Mißgunst und sinnfreier Haß stehen einem unverwüstlichen Optimismus gegenüber. Die Kraft der Bilder, diese starken Charaktere machen auch immer wieder deutlich, daß unser (europäischer) Reichtum eben nicht das Maß aller Dinge sein kann.

Dragon sagt einmal, daß diese Tänze alles andere als ein Trend sind. Das belegt sicher auch der Fakt, daß LaChapelle fast drei Jahre an diesem Film arbeitete. Widerlegt wird das allerdings durch aktuelle Videos von arrivierten Stars wie Missy Elliot, Black Eyed Peas oder Chemical Brothers. Was letzlich auch egal ist, denn Kunst und Schönheit tun allen gut!

Originaltitel: RIZE

USA 2005, 85 min
Verleih: REM

Genre: Dokumentation, Musik

Regie: David LaChapelle

Kinostart: 20.10.05

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.