"Die Probezeit ist vorbei." Die nüchternen Worte klingen in den Ohren der 18-jährigen Rosetta wie das endgültige Todesurteil. Verzweifelt attackiert sie ihren Chef, klammert sich an ihn, versucht, den herbeigerufenen Sicherheitskräften in einen Lagerraum zu entkommen - letztes Refugium eines großen Traums: Arbeit. Selten hat man auf der Leinwand jemanden mit dieser physischen Konsequenz um soziale Aufgehobenheit und letztlich Respekt ringen sehen. Täglich zieht die junge Frau mit dem Gesicht eines zornigen Kindes in diesen Kampf, selbst dort, wo die meisten Menschen Energie und Liebe für den nächsten enttäuschenden Morgen tanken. Denn Rosettas Zuhause ist ein schlammiger Campingplatz, auf dem sie mit der alkoholkranken Mutter mehr haust als wohnt. Der Ort spiegelt eine Existenz außerhalb jeder Normalität und spricht von der kaum zu ertragenden Scham, die in solch einem Leben zur prinzipiellen Haltung wird. Als dann auch der Job in einer Imbißbude wieder verloren scheint, verrät Rosetta ihren einzigen Vertrauten.
Dieses bittere Frauenporträt bezieht seine unbändige und schwer verdauliche Kraft vor allem daraus, daß sich die Kamera kompromißlos auf den Nahkampf einläßt. Wenn Rosetta den Wald zum See durchquert, bleibt sie ihr dicht auf den Fersen und pendelt im Takt der Schritte. Wenn das Mädchen verstohlen die Gummistiefel aus dem Versteck holt und gegen ansehnlichere Schuhe eintauscht, weicht sie ihr nicht von der Seite, riskiert sogar, Einzelheiten aus dem Auge zu verlieren, um dem Pulsschlag der ewig Fliehenden folgen zu können.
Indem der Blick Rosetta hinterher hastet, erscheint sie wie ein scheues und gehetztes Tier, daß jeden Fremden fürchtet - auch wenn er helfen will. Gerade weil sich das Regieduo Dardenne diesem Zwiegespräch zwischen Objektiv und Darstellerin demütig ergibt, prägt sich Rosettas Bild im Gedächtnis ein. Doch letztlich ist das wohl größte Verdienst der Belgier, dieses Gesicht entdeckt zu haben: Emilie Dequenne.
Originaltitel: ROSETTA
Belgien/F 1999, 94 min
Verleih: Peripher
Genre: Drama
Darsteller: Emilie Dequenne, Fabrizio Rongione, Anne Yernaux, Olivier Gourmet
Stab:
Regie: Luc Dardenne, Jean-Pierre Dardenne
Drehbuch: Luc Dardenne, Jean-Pierre Dardenne
Kinostart: 05.07.01
[ Sylvia Görke ]