3 Bewertungen

Rückkehr ans Meer

Brillantes Drama über schweren Verlust und vertagte Liebe, über Neuanfang und Notwendigkeit des Alleinseins

Ja, man kann sie schon wieder anschwellen hören, all die schrillen Stimmen jener nostalgischen Kläger und unilateralen Geschmackspolizisten, die sich immer dann erheben, wenn François Ozon, das einstige Wunderkind des französischen Kinos, sich anschickt, genau den Film zu drehen, den sie so mal wieder nicht erwartet haben. Die einen meinen träge, Ozon habe doch gefälligst bei seinen Wurzeln zu bleiben und in Dauerschleife Blutig-Sexualisiertes à la SITCOM und Schwül-Schräges im Geiste von TROPFEN AUF HEISSE STEINE zu drehen.

Die anderen wiederum fordern dreist den Ozonschen Purismus, den er in UNTER DEM SAND und DIE ZEIT DIE BLEIBT offerierte. Unisono wurde genörgelt, als plötzlich in ANGEL – von den meisten Abtrünnigen unerkannt augenzwinkernd – die Roben rauschten, und in RICKY einem Baby spontan Flügel wuchsen. Ja, die Ansprüche an Ozon, gerade durch die filmbeschreibende Zunft, sind keine geringen, genauer betrachtet sind sie ziemlich grober Unfug. Und für Ozon selbst nicht von großem Interesse. Er dreht allen Festgefahrenen eine Nase, denn macht er doch einfach, was er will. Genau so sieht dann immer sein nächster Film aus und erfreut damit all jene, die nur eine Erwartung an Ozon haben: vom spielfreudigsten Filmemacher der Gegenwart das Unerwartete zu bekommen.

Man kann es nicht genug goutieren, daß es eben genau die erzählerische Diversität in Ozons Œuvre ist, die ohne Abrieb anhaltend fasziniert, und daß sich diese formale und inhaltliche Vielfalt dennoch in einer erkennbaren Handschrift bündelt. Klingt widersprüchlich? Quatsch, man muß einfach Ozons Filme sehen – immer wieder. Diesen hier zum Beispiel. Der ist beim ersten Mal schon sehr gut, beim zweiten Mal bricht er einem fast das Herz. Und zur Ergänzung für Erbsenzähler und Schubladenfetischisten – ja, RÜCKKEHR ANS MEER ließe sich eher an die Seite der stilleren Werke Ozons stellen.

Louis und Mousse – das klingt reiner, als es ist. Die Wohnung, in der beide leben, ist barock, liegt an der Seine, in den großen Fenstern spiegelt sich der nächtliche Fluß geradezu spielerisch. Doch hinter dem Glas, da kriecht der Dreck. Da wohnt die Sucht. Da liegt ein kümmerliches Bündel vor Schmerz gekrümmt auf den zerwühlten Laken – Mousse. Da empfängt einer halbnackt und ungeduldig den Boten kurzen Glücks – Louis. Und helles Licht kommt erst durch die Fenster, wenn das Heroin zu wirken beginnt, und wenn sich für Louis das Tor ganz weit öffnet. Seine Mutter findet den Jungen bizarr kniend, starren Blickes und mit Schaum vor dem Mund auf dem Boden der prächtigen Wohnung, Mousse aber kann gerettet werden. Allein dieser Moment, der „nur“ Auftakt zur eigentlichen Geschichte ist, gelingt Ozon zum großen „Chant de douleur“, da er in wenigen Pinselstrichen Schicksale, Milieus, Lebenshaltungen und dann – gottlob – Zukünftiges skizziert.

Unglaublich! Diese ruhig inszenierten, traurigen Momente zu Beginn stellen Ende und Anfang gegenüber: Mousses Rettung ist der Neuanfang, für das Ende steht die Kälte von Louis’ verbitterter, wohlhabender Mutter, die derart beherrscht dem Heraustragen des Leichnams ihres leiblichen Kindes beiwohnt, daß man kotzen möchte. Diese Frau trickst mit Resolution und hat dabei jede Kontrolle längst verloren. Ozon will sie vergessen, zu Recht, und schaut zur nun auf sich gestellten Mousse – und zum Kind in ihrem Bauch. Das wachsende Baby ist für die strengstens auf den Ruf bedachte Familie Louis’ nur eine „Angelegenheit“, um die sich ein vertrauter Arzt kümmern werde. Doch Mousse geht weg, unangekündigt, weg vom Pariser Krach in eine ländliche Stille. Sie braucht endlich Licht. Sie braucht Ruhe. Deswegen fühlt sie sich auch gestört, als sie einige Monate später Besuch bekommt – von Paul, Louis’ schwulem Bruder.

Schlichtweg faszinierend, wie Ozon diese Ablehnung vorerst in Neugier und schließlich in tiefe Zuneigung transferiert, wie es ihm gelingt, Ort und Zeit tatsächlich zu lebensnotwendigen Paradigmen zweier sich neu Findender zu machen. Und diese Reise ans Meer ist natürlich auch für Ozon eine Rückkehr, filmt doch keiner wie er den Strand. Und da darf man tatsächlich Parallelen ziehen – der trügerische Postkartensonnenuntergang in 5 X 2, die böse atlantische Pracht in UNTER DEM SAND oder die Kindheitsspiegelungen am Meer in DIE ZEIT DIE BLEIBT. Aus letzterem „kopiert“ Ozon ein sehr schönes Bild, wenn er jetzt in einer Szene Paul neben Louis schweigend im Bett liegen und sie sich anschauen läßt, so wie einst Romain sich selbst als kindlicher Lockenkopf begegnete. Das rührt unheimlich an, weil es viel über den brüderlichen Verlust erzählt, und weil Ozon mit diesem Kniff eine ganz neue erzählerische Reife beweist, die ihm bestens steht.

Ozons RÜCKKEHR ANS MEER stellt mit Mousse und Paul ganz bewußt zwei so konträre Figuren gegenüber, denn so ist es regelrecht schön zu sehen, wie Grenzen, Neigungen und Zukunftspläne verwischen. Trotz aller Unterschiede in der Lebensweise verbindet Paul und Mousse sehr viel, deswegen ist RÜCKKEHR ANS MEER auch eine Geschichte über fehlende und vertagte Liebe, schmerzlichen Verlust und nicht zuletzt über das Bewußtsein, daß wir alle in bestimmten Lebensphasen allein sind – und manchmal allein sein müssen.

Und da Ozon den harten Schnitt mag, paßt das – auf den flüchtigen Gedanken – doch sehr krasse Ende erst einmal sehr gut. Denn wenn man ganz genau in Mousses Gesicht schaut, wenn man Paul beobachtet, wie er das Neugeborene in seinen großen Händen hält, dann weiß man, daß es auch ein sehr erwachsener und durchaus mit Hoffnung verbundener Schluß ist.

Originaltitel: LE REFUGE

F 2009, 88 min
FSK 6
Verleih: Arsenal

Genre: Drama

Darsteller: Isabelle Carré, Louis-Ronan Choisy, Melvil Poupaud

Regie: François Ozon

Kinostart: 09.09.10

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.