Achtung, ein Wunder: der erste in einer einzigen, ungeschnittenen Sequenz gedrehte Spielfim überhaupt. Im paradoxen Widerspruch zu allen magischen Erfahrungen, werden Wunder im Kino jedoch nicht nur erblickt, sie sind auch "gemacht". So ist dieser kinematographische Weltrekord auch eine einzigartige (vielleicht sogar wunderbare) Möglichkeit, der ganz und gar prosaischen Kunsthandwerk-Maschine "Kino" zu begegnen. Ein Tragegestell, ein Hard-Disk-System zur Aufnahme von bis zu hundert Minuten unkomprimierter Bilder, eine 24p High Definition Kamera, eine portable, leistungsstarke Batterie-Stromversorgung - ein ungeheurer Apparat für den uralten Traum vom ununterbrochenen Schauen, für das Märchen von der Tarnkappe. Das alter ego des Regisseurs, das Kamera-Auge, bekam eine Stimme und geriet in die Räumlichkeiten der Eremitage.
Auf dem Rundgang durch die Ausstellungen und die Petersburger Periode der russischen Geschichte beobachtet es Peter I. beim Prügeln, Katharina II. auf dem Weg zum Klo, drängelt sich durch die Ballgäste des letzten Zaren Nikolaus II. und Museumsbesucher in ernüchternd heutigen Anoraks. Es trifft auf einen rücksichtsloseren Zeitreisenden aus dem 19. Jahrhundert, der Passanten anquatscht, an den Bildern schnüffelt und im Brustton westeuropäischer Arroganz über zaristisches Despotentum, russische Faulheit und Ideenlosigkeit meckert.
Sokurov, der diesem Nörgler nur selten widerspricht, zwingt uns mit dem Blick durch das zwar wendige, aber widernatürlich aufgerissene Auge in eine Kräfte zehrende Hypnose. Kein Blinzeln, keine Auszeit vom visuellen Rausch aus Prunk und Pracht. Wie die Gemälde an den Wänden türmen sich auch die Geschichtsbilder in den Gängen und Sälen in Petersburger Hängung, lösen sich zur diffusen Gesamtschau auf.
"Ich öffne die Augen, doch ich sehe nichts" spricht die Kamera - Sokurovs Hochleistungserkundung der von Peter dem Großen gezimmerten Kultur-Arche hat die Filmkunst nicht nur auf einen weiteren Höhepunkt ihrer technischen Möglichkeiten gebracht, sondern irgendwie auch in einen blinden Fleck. Dieses Experiment in Echtzeit atmet keine Echtheit. Und sei es auch mit noch so vielen Menschen bevölkert!
Originaltitel: RUSSIAN ARK
D/Rußland 2002, 96 min
Verleih: Delphi
Genre: Experimentalfilm, Historie
Darsteller: Sergej Dreiden, Maria Kusnetsowa
Stab:
Regie: Alexander Sokurov
Kamera: Tilman Büttner
Kinostart: 01.05.03
[ Sylvia Görke ]