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Scherbentanz

Operation Rückenmark - Schmerz und Komik kratzen am Nerv einer Familie

"Ich glaub nicht mehr an Hosen." Ein Romanautor, der auch die Verfilmung seines Buches nicht aus den Händen geben will, mißtraut entweder dem Können Anderer, schlimmer noch: bezweifelt die inspirierende Kraft der eigenen literarischen Fähigkeiten, oder er hat - wie hier Chris Kraus - ein fragiles Gewebe in seiner ganzen Zerbrechlichkeit gegen jeden Vandalismus zu verteidigen. Zu jenen sensiblen Festungen gehört auch obiger Satz, mit dem Jesko, der zartbesaitete Rebell, der kurz angebundene Beleidiger in der ihm eigenen Lakonik ausdrückt, wofür andere tausend Worte brauchen: dieser Dreißig-jährige glaubt an gar nichts mehr.

Als er zur Familienfeier anreist, ist er zumindest hinsichtlich des Beinkleids konsequent und trägt einen Herrenrock. "Wie siehst du denn aus?" fragt der Vater, "Danke, gut" antwortet Jesko. Als Leukämie-Patient ist man auf Interesse am werten Befinden geeicht und hört, wenn überhaupt, nur auf innere Stimmen. Während der Sohn zwar bar jeder Erwartungen an den beherrscht-steifen Vater und den angepaßten Bruder, aber immerhin durch die Vordertür heimkehrt, schleust Kraus auf diskreteren Wegen einen weiteren Outlaw ein und zündet damit die Lunte "Familie" - ganz gegen jede ökonomische Vernunft - gleich von zwei Enden her an. In irgendeinem Obdachlosenasyl hat man Jeskos Mutter Käthe aufgetrieben, um die inzwischen geistig Umnachtete und völlig Verwahrloste gleich darauf im Gartenhäuschen abzulegen. Ihr Knochenmark soll Jesko retten, aber er ekelt sich, ist wütend über die ungebetene Hilfe, vor allem aber auf die Frau, deren gewalttätige Ausbrüche ihn und seinen Bruder Ansgar vor zwanzig Jahren fast das Leben gekostet hätten.

Wenige Rückblenden machen diese Vergangenheit plastisch. Eine von Kitsch und Nippes befreite Landhaus-Kulisse deutet Großbürgerliches lediglich atmosphärisch an. Kraus interessiert sich für Gefühle, nicht für Milieus. Er entwirft, stilisiert und überzeichnet ein Gruppenpsychogramm von Versehrten - jeder hängt am Trauma-Tropf des anderen. Räume und Orte sind endlich einmal wieder verdichtet, statt in prosaischen Pixeln Authentizitäts-Fanatikern den letzten Winkel der Besenkammer zu zeigen. Diese anrührende, schräg-bittere Nahaufnahme einer Familienimplosion lebt von großartigen Dialogen, in denen auf jedes süße Wort eine sarkastische Retour-Kutsche folgt, von Figuren, die auch ein paar Geheimnisse für sich behalten dürfen, und wunderbaren Schauspielern wie Nadja Uhl, die als ehemals sexsüchtige Krankenschwester Zitrone an Jeskos mürrischer Fassade kratzt. Jürgen Vogel stemmt gemeinsam mit Margit Carstensen den emotionalen Kraftakt einer eisigen, grantigen Mutter-Sohn-Beziehung.

Die kantige Leuchterin im Sternbild der Faßbinder-Ära ist mehr wimmernder, fluchender Quälgeist denn vertraute Mutter, bewegt sich brüllend oder lächelnd in den Grauzonen zwischen Altersstarrsinn und Kinderweichheit, muß behutsam aber nachdrücklich über ihr wirkliches Alter aufgeklärt werden und hebt mit einem Spaten Erdlöcher aus, in denen sie fast verschwindet. "Du bist ’ne ganz berühmte Schauspielerin!" beruhigt der Sohn die Sterbende schließlich, und Jürgen Vogel verbeugt sich vor einer großen Kollegin.

D 2002, 95 min
Verleih: Movienet

Genre: Tragikomödie

Darsteller: Jürgen Vogel, Margit Carstensen, Nadja Uhl, Dietrich Hollinderbäumer, Andrea Sawatzki

Stab:
Regie: Chris Kraus
Drehbuch: Chris Kraus

Kinostart: 31.10.02

[ Sylvia Görke ]