D 2020, 124 min
FSK 12
Verleih: Weltkino
Genre: Dokumentation, Biographie
Regie: Bettina Böhler
Kinostart: 20.08.20
Erinnern Sie sich, wo Sie vom Tod JFKs erfuhren und wie vom Ende „unserer“ Lady Di? Und paßt „unser“ Irritationskünstler Christoph Schlingensief in diesen Memorialzusammenhang? Dieses Lautmaul im Pelz des adretten Jungen von nebenan? Sie entscheiden! So wie das Schlingensiefsche Kino-, Theater-, Fernsehschaffen stets eine Entscheidung forderte: ob man sich nämlich seinen Überforderungen aussetzen wollte.
Schlingensiefs zehnter Todestag – er starb 2010 mit nur 49 Jahren – ist Anlaß für einen Dokumentarfilm, der nicht minder um eine Position ringt. Sympathie und Wertschätzung stehen außerfrage. Die Herausforderung liegt vielmehr darin, eine Stimme zu finden, die Schlingensiefs Biographie so erhellt, daß ihr das Flackern erhalten bleibt. Bettina Böhler, im Hauptberuf Cutterin für den Adel des deutschen Filmwesens und in dieser Funktion auch Monteurin zweier Schlingensief-Kinoproduktionen, ruft dem Freund und Kollegen einen Film nach, dem das gelingt. Sie erzählt aus dem Ich: nicht dem Regisseurinnen-, sondern dem Schlingensief-Ich.
Aus einer enormen Fülle von Material, aus Privatem wie öffentlich Versendetem, rekonstruiert sie den Verstorbenen als Kommentator seiner selbst – und seiner Lust, den politischen wie ästhetischen Zeitgeist aufzuscheuchen. Reflektiert, sentimental, aggressiv, resigniert, großmäulig, kleinlaut. „Ich bin sechs Kinder“, hört man ihn sagen und erfährt, daß der Apothekersohn aus Oberhausen einziges Ergebnis jahrelanger Elternbemühungen um Nachwuchs war, daß ihm die kleinbürgerliche Familie seine anarchischen Kunsteskapaden komisch-ergeben nachsah und wie sich das mit Wim Wenders, Tilda Swinton oder Bayreuth verhielt. Mindmapping durch Werkphasen, Selbstbetrachtung im medialen Rückspiegel.
Aus Dokumenten verschafft sich hier ein Schnelldenker und Funkenschläger noch einmal Gehör, was allenthalben für die versierte, die kreative Monteurin Böhler spricht. Jedoch nicht unbedingt für eine disziplinierte Regisseurin. Statt sich den Verlockungen einer trügerischen Vollständigkeit durch Selbstbeschränkung zu widersetzen, türmt sie das Material zum Haufen – so herrlich, daß man sich hineinlegen möchte. Doch die Nadel, jene Überforderung, jene merkwürdige Lautheit, mit der Schlingensief uns piesackte, steckt noch irgendwo dort drin. Wie sie sich anfühlte, wissen wir. Aber wie genau sie funktionierte?
[ Sylvia Görke ]