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Seit Otar fort ist ...

... müssen drei Frauen ihn und sich neu erfinden - Lügen für die Wahrhaftigkeit

Großmutter Eka sieht im Wohnzimmer fern, ihre Tochter Marina hört in der Küche Radio, am Schreibtisch von Enkelin Ada läuft eine Musikkassette - Verbundenheit und Dissonanz in einer Szene, einfach komponiert und doch von ungeheurer Aussagekraft, zugleich das wundervoll schlichte Erzählprinzip dieses Spielfilmdebüts. In ihren Dokumentarfilmen ganz der Wirklichkeit verpflichtet, gelingt es Julie Bertuccelli, auch für die Fiktion eine Sprache zu finden, die wahrhaftig ist. Als Regieassistentin lernte sie bei Meistern der Fiktion wie Tavernier und Kieslowski. Sie arbeitete mit dem Georgier Otar Iosseliani, verliebte sich in seine Filme, wie sie sagt, und mag ihm mit ihrem OTAR verschmitzt Referenz erweisen. Dabei ist Bertuccellis Georgien kein bitterarmer Ostblocksplitter mit folkloristischen Wegweisern. Ihr Tiflis ist charakterisiert durch Menschen.

Ada studiert. Marina beschafft Geld auf dem Flohmarkt, borgt von Freunden und spielt Lotto. Eka lebt in Erinnerungen. Die gemeinsame Wohnung ist ebenso improvisiert, wie der herrschende Postkommunismus, und als wieder einmal der Strom ausfällt, konstatiert die Alte nüchtern: "Stalin hätte Ordnung in dieses Chaos gebracht". Vielleicht. Aber ernsthaft will ihn niemand zurück. Einst mußte man schließlich die französischen Bücher vor den Bolschewiki verstecken. Nun liest ihr die Enkelin Proust vor und massiert dabei ihre alten Füße, während Marina sich ruppig und pragmatisch mit den Erfordernissen des Alltags herumplagt.

Der männliche Held, der vor allem in Ekas Augen alles besser machen könnte, glänzt durch Abwesenheit: Otar, ihr geliebter Sohn, vor zwei Jahren nach Paris gegangen, um sein Glück zu suchen und Arbeit auf dem Bau zu finden. Für seine Mutter schimmert er als geliebter verlorener Sohn, für die Schwester als ständiger Quell der Wut, weil er die Familie verließ und die Liebe der Mutter endgültig mitnahm, er ist Adas Glitzern der französischen Sprache, der Pariser Boulevards und Cafés. Der Regisseurin dient er als ausgeblendeter, fluoreszierender Fixpunkt, an dem sich ihre Geschichte bricht.

Die Nachricht kommt per Telefon: Otar ist tot. Und weil er nun weiter fort ist, als Großmutter verkraften könnte, schreibt Ada selbst die Briefe, auf die Eka so geduldig wartet, legt Marina Geld bei, wie es Otar sonst tat - die Lüge ist in der Welt und lebt. Daß sie auch die Phantasie beflügelt, zeigt Bertuccelli, indem sie ihren Protagonistinnen in den gefälschten Briefen Raum für eigene Träume öffnet: Frankreich, Literatur, Oper und ein Mann, der diese Träume leben darf - bis Eka sich entschließt, ihren Sohn zu besuchen. Hier, in Paris, offenbart sich Bertuccellis Drama einer amputierten Familie, von Müttern und Töchtern, auch als Tragikomödie einer Befreiung.

Still und konsequent wie der ganze Film ist auch diese Eskalation. Ebenso still die Blicke und Gesten, mit denen die Kompliziertheit, aber auch die familiäre Selbstverständlichkeit in der Beziehung der drei Frauen greifbar werden. Gefrorene Bilder, die man mitnimmt, um sie später aufzutauen: die krumme Großmutter im grünen, geblümten Kleid vorm grünen, geblümten Garten, rauchend in der Gondel eines Karussels, später fast verschwunden in einer seltsam leeren Panorama-Aufnahme von Paris.

Originaltitel: DEPUIS QU’OTAR EST PARTI

F/Belgien 2003, 99 min
Verleih: Movienet

Genre: Tragikomödie

Darsteller: Esther Gorintin, Nino Khomassouridze, Dinara Droukarova

Stab:
Regie: Julie Bertuccelli
Drehbuch: Julie Bertuccelli

Kinostart: 06.05.04

[ Sylvia Görke ]