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Sergej in der Urne

Dem Urgroßvater auf der Spur

Ahnenforschung ist ein beliebtes Hobby, und die Erkundung der familiären Vergangenheit bildet quasi ein eigenes Subgenre innerhalb des Dokumentarfilms. Die Familiengeschichte ist ein unerschöpflicher Quell von Anekdoten, Geschichten, Geheimnissen und Zerwürfnissen. Der Berliner Filmemacher Boris Hars-Tschachotin hat in seiner kosmopolitischen Familie ein besonderes Prachtexemplar von Urgroßvater aufzuweisen, dessen Glanz und Tragik noch auf die nachfolgenden Generationen abfärben.

Der Mikrobiologe und Politaktivist Sergej Stepanowitsch Tschachotin, geboren 1883 als Sohn eines russischen Diplomaten in Konstantinopel, gestorben 1973 in Moskau, lebte ein rastloses Leben, in dem sich die Ereignisse und Brüche des 20. Jahrhunderts exemplarisch spiegeln. Er wurde berühmt durch die Entwicklung des Strahlenskalpells und war mit Iwan Pawlow und Albert Einstein befreundet. Mindestens ebenso wichtig wie die Wissenschaft war Tschachotin sein unermüdlicher Einsatz für demokratische Werte. Politische und private Umbrüche trieben ihn quer durch Europa, seine Nachfahren – mit fünf Ehefrauen zeugte er acht Söhne – leben heute über den ganzen Kontinent verstreut. Die Erinnerungen seiner noch lebenden Söhne an ihren berühmten Vater sind höchst ambivalent. Die Familie ist zerstritten, nicht einmal über einen Ort für die Bestattung der Asche des Wissenschaftlers konnte man sich einigen. So steht die Urne mit seinen sterblichen Überresten seit 30 Jahren auf dem Schrank eines der Söhne.

Hier nun bringt sich der Filmemacher als Protagonist selbst ins Spiel, indem er versucht, eine Einigung herbeizuführen und dem Urgroßvater seine letzte Ruhe zu ermöglichen. Daraus entstanden ist ein kurzweiliger Film, der mit ungewöhnlicher Leichtigkeit Familien- und Zeitgeschichte zusammenbringt. Auch visuell hebt sich SERGEJ IN DER URNE von den üblichen Doku-Standards redender Köpfe im Wechsel mit Archivaufnahmen durch eine eigens für den Film entwickelte Animationsebene ab.

Schade nur, daß man mitunter in der Fülle der biographischen Ereignisse und widerstreitenden Meinungen etwas den Faden verliert. Über manche der angerissenen Geschichten und Figuren hätte man gern mehr erfahren, und das Schicksal der Frauen an der Seite Tschachotins wird insgesamt kaum thematisiert. Aber welche Familiengeschichte lässt sich erschöpfend schon auf knapp zwei Stunden komprimieren?

D 2009, 110 min
FSK 6
Verleih: Film Kino Text

Genre: Dokumentation

Stab:
Regie: Boris Hars-Tschachotin
Stimmen: Ulrich Matthes

Kinostart: 24.05.12

[ Dörthe Gromes ]