Gleich morgens masturbiert Brandon unter der Dusche, fixiert wenig später auf dem Weg ins Büro eine fremde Frau in der U-Bahn, zwingt sie in eine Interaktion, eine routinierte Choreographie aus Blicken, Körperhaltung, Lächeln; folgt ihr dann manisch ins Gewimmel der Rush Hour, verliert sie dort, masturbiert kurz darauf in der Bürotoilette, hungert dem Abend entgegen, an dem er wie an jedem anderen auch in seinem Luxusappartement auf Internet-Pornoseiten surft, bevor er sich in die Nacht, in den Sex stürzt … Pornos, Cybersex, Prostituierte, austauschbare After-Work-Fucks. Brandons Leben ist das süchtige Hecheln von einer Ejakulation zur anderen, ist getrieben von einem sexuellen Kaltbrennen ohne Befriedigung. Ohne Erlösung.
Wie schon für sein Extremdebüt, das IRA-Gefängnisdrama HUNGER, hat sich Regisseur Steve McQueen auch für seinen Zweitfilm Michael Fassbender als Hauptdarsteller auserkoren. Eine Wahl, die nicht nur mit Blick auf Fassbenders erneut phänomenale Performance verständlich ist, sondern auch in einer tieferen Hinsicht schlüssig. Beide Filme, so der Regisseur, seien welche über „Politik und Freiheit.“ HUNGER porträtierte dabei einen IRA-Häftling, der mit einem Hungerstreik seinen Körper „als politisches Instrument“ nutzte, so seine „eigene Unabhängigkeit kreierend.“ Brandon in SHAME ist indes „ ... eine Person, die alle westlichen Freiheiten besitzt und durch ihre offensichtliche sexuelle Freizügigkeit ihr eigenes Gefängnis erschafft.“ Und genau da nun liegt der provokante Stachel dieses Films.
SHAME protokolliert einen Zustand der Unfreiheit inmitten und trotz/wegen aller möglichen (westlichen im Allgemeinen, sexuellen im Speziellen) Freiheiten, die uns gegeben sind. Dabei geht es nicht um psychologische Analyse oder Kritik an einer sexualisierten Gesellschaft. SHAME erzählt von einer Unfreiheit als existentielle Krise, als eine zehrende innere Leere, die ständig einen Kick (hier eben den sexuellen) nötig macht, sie zu ertragen. Und wenn in Brandons Leben plötzlich dessen Schwester Sissy schneit, eine Einsame auch sie, aber eine, die noch Nähe einfordert, wird das in einer Tragödie münden, der sich McQueens Film mit der Logik und Schönheit jener Bach-Fugen nähert, die immer wieder in Distanz und Erhabenheit intensiv schonungslose Szenen kontrastieren.
Szenen, die Brandon durch eine Hölle des Exzesses schicken und in einem Zusammenbruch aus Scham, Trauer und Verzweiflung gipfeln, der erschütternd und kathartisch ist – und vielleicht eine Hoffnung.
Originaltitel: SHAME
GB 2011, 99 min
FSK 16
Verleih: Prokino
Genre: Drama, Erotik
Darsteller: Michael Fassbender, Carey Mulligan
Regie: Steve McQueen
Kinostart: 01.03.12
[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.