Noch keine Bewertung

Shanghai, Shimen Road

Straße der Umbrüche

Mit 17 hat man bekanntlich noch Träume, auch angesichts dazu nicht gerade einladender Umstände. Xiaoli weiß das genau: Der Teenager lebt bei seinem strengen Großvater, weil sich die Mutter schon lange gen USA absetzte und an eine neue Ehe denkt. Wenigstens hinterließ sie dem Jungen eine Kamera und schickt regelmäßig Geld, welches er fleißig spart, auf eine Karriere als Fotograf hinarbeitet. Doch obwohl um Xiaoli das pralle Leben Shanghais tobt, fristet er ein ärmliches Dasein in einer abgeranzten Straße, zusammen mit Lanmi, beste Freundin und Fabrikarbeiterin. Jene wünscht sich weg, raus aus der Armut, fort von den ständigen innerfamiliären Streitereien, das Ausland lockt. Eine Coke, Sinnbild westlicher Verheißungen, gerät zum Lawinen auslösenden Steinchen – Lanmi strauchelt, beschreitet Abwege, wird psychisch begraben. Eine von vielen Entwicklungen, auf Fotos gebannt von Xiaoli.

Selbige dienen nahezu zwingend als die einzelnen Szenen zusammenhaltender Klebstoff, bringen dokumentarische Qualität ins Geschehen. Kontrastreiche Schwarzweiß-Aufnahmen, punktuelle Beobachtungen, reizvolle Gegensätze zum trubeligen Hoch und Runter der einzelnen Existenzen. Alltägliches geschieht, Kleines bettet sich unter die Schwingen größerer Ereignisse, während Regisseur und Autor Haolun Shu nie den Mikrokosmos einer Straße verläßt und doch weitaus globalere Zusammenhänge darzustellen weiß. So bringt Xiaolis neue Schulkameradin ihn dazu, politisches Bewußtsein zu entwickeln, während in Beijing Studentenunruhen das Land verunsichern, China anno 1988 kurz vor entscheidenden Umbrüchen steht. Shu unterfüttert dies mit universalen Themen wie Liebeskummer – Lanmi reagiert zunehmend kalt auf Xiaolis wachsende Gefühle, rudert einen eigenen Problemfluß entlang.

Ungeachtet schauspielerischer Gewöhnungsbedürftigkeit oder manchmal hakeliger Bebilderung gelingt Shu das oft poetisch zu nennende Porträt einer stürmischen Zeit anhand von Einzelschicksalen, gesehen durch die mehrheitlich unschuldigen Augen eines Fast-Kindes. Wenn Xiaoli schließlich Jahre später zurückkehrt und die Fragen raunen, was eigentlich am Ende bleibt, wie man Veränderungen begegnet und Verluste ins eigene Entwickeln integrieren kann, weht melancholische Hoffnung an jetzt zu Ruinen verfallener Vergangenheit vorbei. Die Krönung eines außergewöhnlichen filmischen Erlebnisses.

Originaltitel: HEI BAI ZHAO PIAN

China 2011, 85 min
Verleih: Kairos

Genre: Drama, Erwachsenwerden

Darsteller: Ewen Cheng, Xufei Zhai, Lili Wang

Stab:
Regie: Haolun Shu
Drehbuch: Haolun Shu

Kinostart: 20.03.14

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...