„Sonntag Nacht, die Leute gehen noch aus, vergnügen sich im Kino und im Theater. Aber wie könnte ich heute ins Kino gehen, in SCARFACE, mich schreckt die Realität genug.“ Die Frau, die sich vor der Welt fürchtet, steht im feuerroten Kleid am Fenster und schaut in die Nacht. Ihr Lebensgefährte sitzt im Sessel und liest Zeitung. Gelegentlich schaut er zu ihr herauf. Was in ihm vorgeht, bleibt im Dunkeln. Ausschließlich die inneren Monologe der Frau füllen die Szene mit Leben. Sie sinniert über das schwierige Schauspielerinnendasein in den 30ern in den USA. Insgesamt passiert wenig. Da fliegen keine Türen, treten keine anderen Figuren auf, die eine Handlung vorantreiben könnten. Die Wirklichkeit gibt sich monoton, unbelebt, starr. Das ist kein Versehen, sondern das Konzept des Films.
Für SHIRLEY – VISIONEN DER REALITÄT hat Gustav Deutsch aus 13 Gemälden des Malers Edward Hopper eine bewegte Collage gebastelt – ein Gemälde pro Einstellung. In diese inszenierte Welt katapultiert er menschliches Leben. Wie zwei Holzmännchen bewegen sich die beiden Schauspieler Stephanie Cumming und Christoph Bach durch die unbewegliche Raumanordnung. Emotionen zeigen sie nicht. Das ist mitunter langatmig und wirkt künstlich. Alles, was außerhalb des festgezurrten Bildes passiert, muß sich der Zuschauer zusammenbasteln. Der Film benötigt eine große Portion an Fantasie. SHIRLEY ist mehr Kunst als Film. Vor allem aber die Nachbildung von Hoppers Bildern ist ein ästhetisches Ereignis. Mit seinen realistischen Gemälden hatte er der Einsamkeit des „modernen Menschen“ ein Denkmal gesetzt. Starr blickende Menschen in leeren Räumen oder hinter Glasfassaden wirken, als hätten sie den Bezug zum eigenen Dasein verloren. Hopper zählt zu den bekannten US-amerikanischen Malern des 20. Jahrhunderts und gilt als Chronist seiner Zeit.
Deutsch hat seine Kunst nun mit Historie angereichert. Depression, Weltkrieg, McCarthy-Ära, Rassenkonflikte oder Bürgerrechtsbewegung – das, was nicht zu sehen ist, wird vor jeder Einstellung angekündigt. Shirley, die Frau, die durch die Gemälde wandelt, reflektiert diese Zeit genauso wie ihre persönliche Situation. Seltsamerweise altert sie nicht, dabei rauscht der Regisseur durch drei Jahrzehnte amerikanischer Geschichte. Der Film zerrt an der eigenen Vorstellungskraft. Hier berieselt nichts, die Zeit steht zuweilen still – ein Experiment, auf das man sich einlassen muß.
Österreich 2013, 93 min
FSK 0
Verleih: Rendezvous
Genre: Experimentalfilm, Historie, Drama
Darsteller: Stephanie Cumming, Christoph Bach
Regie: Gustav Deutsch
Kinostart: 18.09.14
[ Claudia Euen ]