Wir sind in New York, einer Stadt aus Pappmaché, die bonbonfarben leuchtet. Das Ganze wirkt wie ein großer Spielplatz, und genau das ist auch das Thema dieses bizarren, ungewöhnlichen Films. Eine These: uns allen ist im unterschiedlichen Maß im Laufe der Industrialisierung das Spielerische abhanden gekommen, auch beim Sex. Pflichthörig, verkrampft, unkreativ, auf schnelle, nachweis- und abwischbare Ergebnisse zielend - so liebt der moderne Mensch.
Dem Regisseur John Cameron Mitchell ist dieses gallige Zeitbild offensichtlich ein Greuel, und deshalb erfand er diese aufwühlende Geschichte um tiefe Sehnsüchte, große Ängste, bittere Einsamkeiten. Er läßt ein schwules Liebespaar mit Beziehungsirritationen, eine ihre Klienten im Frust schon mal ohrfeigende Psychiaterin, einen Voyeur, eine selbstzweifelnde Photographin und ein frischfleischiges Greenhorn auf der Testkampfbahn zusammenfinden - im Schoß eines hochbeinigen, zwischengeschlechtlichen Wesens, der Mistress des Clubs Shortbus. Hier geht vieles, vielleicht alles, hier scheint das Paradies. Das aber ist in so wunderbar betitelte Räume wie "Pussy Palace" oder "Sex No Bombs!-Room" aufgeteilt, hier werden die Chakren geöffnet, hier experimentiert, flirtet, vergißt, gewinnt man und lotet aus. Eine Oase quasi, um die Balance wiederzukriegen. Ein mögliches Motto der Nacht: Monogamy Is For Straight People ...
Was Mitchell hier entflicht, ist weder voyeuristisch, noch macht es an. Er zeigt eher und endlich auf, wie wichtig Sex eben doch ist. Wer blockiert, wer blockt, wer aus welchen Gründen auch immer sich ängstigt, wird frustriert, unsicher, fühlt sich ungeliebt, ist in vielen Lebensbereichen nicht belastbar, für die Umwelt oft miesepetrig bis unerträglich. Mitchell bietet nun einen Lösungsansatz. Der mag für manche banal erscheinen, doch schlummert in dieser glaubwürdigen, manchmal komisch und oft herzrührend erzählten These so viel mehr.
Sex kann eine Reise sein, weg vom Schnöden, raus aus dem Streßzirkus, runter vom Karussell des sich ewig Beweisens. Ohne Missionarsgetöse erweist sich Mitchell nach HEDWIG AND THE ANGRY INCH ein weiteres Mal als virtuoser Mittler zwischen erträumter Wirklichkeit und verwirklichter Träumerei: es ist völlig egal, ob du dick, haarig, mager oder unbehaart bist, ob du große Brüste, einen runden Arsch, eine minimale oder gar geniale genitale Ausstattung hast, ob du schielst, ob du schwitzt, ob du zweimal täglich duschst - mit gutem Sex zeigt dir schon wer und du dir selbst, wie schön, wie heiß, wie gut, wie klug, wie einfühlsam, wie kreativ du bist. Basta.
Mitchell glaubt neben hier akrobatisch gefilmter körperlicher Leidenschaft auch an die echte Liebe, selbst wenn sie nur für einen ganz kurzen, aber im persönlichen Empfinden lebenslangen Moment strahlt: hier zwischen dem Greenhorn Ceth und einem fast sterbensalten Mann. Eine der stärksten Szenen des Films, in dem sich SHORTBUS kurz und uneitel als taugliche Metapher für den charmanten Irrsinn des Lebens und die unbestechliche Ratio des Todes erweist. Da zeigt sich Mitchell als sympathischer Strippenzieher, einer, der von Tränen, Lachen und tiefsitzender Angst eine Menge versteht.
Gerade Angst ist ein Schlüsselmotiv des Films und ein dauerhafter Begleiter unserer Zeit: die Angst zu versagen, zu verlieren, verstoßen zu sein, sich zu verirren - auch in einer Stadt wie New York, die exemplarisch und poetisch interpretiert als Ort der Vergebung fungiert. Und so versteht sich dieser Film als eine Art Hafen, ein ehrliches und kunstvoll erzähltes Angebot, mit sich ins Reine zu kommen, Frieden zu finden und endlich Ruhe zu haben. Das ist nicht wenig für einen Kinofilm. Zweifel bleiben ob der rührenden und so rauschhaft erzählten Schlußszene: Kriegt man diesen Frieden auch ohne Drogen?
Originaltitel: SHORTBUS
USA 2006, 97 min
FSK 18
Verleih: Senator
Genre: Drama, Schwul-Lesbisch, Erotik
Darsteller: Justin Bond, Sook-Yin Lee, Paul Dawson, PJ DeBoy, Jay Brannan, Peter Stickles
Regie: John Cameron Mitchell
Kinostart: 19.10.06
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.