Martin Suter, der nach erfolgreicher Karriere in der Werbung Schriftsteller wurde, erlebt eine Art Revival. Seine Themen, häufig gebunden an die Machbarkeitsträume und Versagensängste eines Mittelstandes mit Rückenschmerzen und Tischmanieren, und sein unumwundener Stil scheinen Filmregisseure in besonderer Weise zu reizen. Auch wenn die Texte, anders als für GIULIAS VERSCHWINDEN, keine ausdrücklich szenische Form haben. Hier nun durchläuft Suters preisgekröntes Romandebüt die Wandlung vom Buch zum Film.
Es ist die Geschichte des 60jährigen Konrad Lang, dessen Verbindungen zur steinreichen Unternehmerfamilie Senn so unauflösbar wie rätselhaft sind. Irgendwie ist er Teil ihrer Güterverwaltung geworden, eine seltsame Mobilie ohne Stellenbeschreibung. In den letzten Jahren hütete er recht und schlecht eine der Sennschen Ferienvillen. Bis ihm das Anwesen aus Nachlässigkeit in Flammen aufgeht. Elvira Senn, die Alterspräsidentin der Familie, faßt einen Entschluß. Für den nun obdachlosen Koni wird in der Nähe eine Wohnung angemietet. Daß er die Familie ansonsten bitteschön in Ruhe zu lassen hat, überhört er geflissentlich. Pikiert rümpft man die Nase ob seiner Unbeholfenheit. Doch für Konis Ausfälle gibt es eine Erklärung – Alzheimer, das große Vergessen, durchleuchtet von grellen Momenten der Erinnerung an die frühe Kinderzeit, die er und Elviras Stiefsohn Thomas wie Brüder verbrachten ...
Der Film nimmt die Grundidee der literarischen Vorlage auf: eine klinische Diagnose als Metapher für eine bestimmte Art zu leben und zu lügen. Entlang an den aufreißenden Erinnerungslücken, die verschüttete Gewißheiten freilegen, wird eine Familie zu ihren Geheimnissen geführt. Das muß Chiche im Sinn gehabt haben. Auf dem Weg dorthin wären allerdings Entscheidungen zu treffen gewesen – für einen belastbaren Erzählton, eine Bildgestaltung, die großbürgerliche und sich auflösende Halbwelt zu einer zusammendenkt. Doch der Regisseur hat sich enthalten: Unpersönliche Bilder einer kühlen, erstarrten Großbürgerlichkeit stehen fast unverbunden neben Konrads Übergangsvisionen, in denen die Realitäten verschwimmen.
Selbstredend wurde Suter die Adaption vorgestellt. Das Lob war artig, aber nicht ohne Haken. Die Besetzung habe ihn überrascht, wird Suter zitiert. Und tatsächlich funkeln hier richtige Diamanten in der falschen Schatulle – oder umgekehrt.
Originaltitel: SMALL WORLD
F/D 2010, 93 min
FSK 12
Verleih: Majestic
Genre: Literaturverfilmung, Drama
Darsteller: Gérard Depardieu, Alexandra Maria Lara, Françoise Fabian, Niels Arestrup, Nathalie Baye
Stab:
Regie: Bruno Chiche
Drehbuch: Bruno Chiche
Kinostart: 16.12.10
[ Sylvia Görke ]