Wir fürchten den Wahnsinn - und sind gleichzeitig fasziniert. Wenn ein Mensch ausrastet und seinen Verstand verliert, fragen wir uns nicht zuletzt: Kann mir das auch passieren? Wo verläuft die Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn?
In der wunderbaren Anfangssequenz des Psycho-Roadmovies streiten sich zwei Männer laut-stark vor einem Wohnmobil, die Kamera bleibt immer in Distanz. Beide werfen sich mangelnden Respekt vor, schließlich verlangt der eine mit sich überschlagender Stimme, der andere solle nicht immer alles auf die Außerirdischen schieben. Sein Gegenüber bleibt ruhig und unbeirrt. Eine perfekte Einleitung: es ist vollkommen unklar, wer welche Rolle einnimmt, wer Patient und wer Therapeut ist.
Auf diesem ambivalenten Verhältnis fußt die ungewöhnliche, manche sagen revolutionäre Therapie des amerikanischen Therapeuten Edward Podvoll, die hier im Mittelpunkt steht. Podvoll definiert die Psychose als spirituelle Krise und nicht als unheilbare Krankheit. Er geht davon aus, daß solche geistigen Extremzustände nur richtig behandelt werden können, wenn alle Beteiligten realisieren, daß jeder Mensch seine Balance verlieren kann, selbst der Therapeut. Der Regisseur Edgar Hagen trifft in seinem berührenden Dokumentarfilm ausschließlich Menschen, in deren Leben Psychosen eine große Rolle spielen. Entweder, weil sie selbst unter ihnen leiden oder weil sie anderen Menschen helfen, sie in den Griff zu bekommen - manchmal auch beides zugleich. Sowohl Edward Podvoll als auch seine Klienten sind außergewöhnliche Protagonisten: beeindruckend klar und sehr selbstreflexiv. Der Zuschauer kann spüren, daß sie alle die Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn schon überschritten haben, in beide Richtungen. Das gleiche gilt für alle anderen Personen, mit denen Hagen auf seiner Reise von der Schweiz bis in die USA spricht: Manche von ihnen stehen gerade erst wieder sehr wacklig auf "diesem" Boden der Realität, finden für ihre Ängste und Psychosen aber trotzdem - oder gerade deshalb - unglaublich treffende Worte.
Diesem Film gelingt das Kunststück, den Wahnsinn filmisch zu fassen, ohne auf plakative Bilder zurückzugreifen. Für die psychische Ausnahmesituation steht das Bild des Nomaden, der nirgends zu Hause ist. Tatsächlich scheinen sich alle Protagonisten unterwegs am Wohlsten zu fühlen und Hagen nimmt diesen Umpuls gerne auf, begleitet sie ein Stück auf ihrem Weg und kommt ihnen dabei teilweise auf fast unheimliche Art sehr nahe.
CH 2006, 98 min
Verleih: Ventura
Genre: Dokumentation
Stab:
Regie: Edgar Hagen
Drehbuch: Edgar Hagen
Kamera: Eric Stitzel
Kinostart: 07.02.08
[ Luc-Carolin Ziemann ] Carolin hat ein großes Faible für Dokumentarfilme, liebt aber auch gut gespielte, untergründige Independents und ins Surreale tendierende Geschichten, Kurzfilme und intensive Kammerspiele. Schwer haben es historische Kostümschinken, Actionfilme, Thriller und Liebeskomödien ... aber einen Versuch ist ihr (fast) jeder Film wert.