Norwegen 1978, Weihnachten, Familienidylle. Man singt die Internationale, Mama Lone lächelt selig, während Papa Magnus Nietzsche zitiert, am Eßtisch gibt’s politische Diskussionen, und zum Schluß werden die Kinder eingeladen, beim elterlichen Sex zuzuschauen. In solch’ freundlich alternativer Atmosphäre wächst Nikolaj auf, der vielleicht folgerichtig ein wenig aussieht, als wäre Körperhygiene kapitalistisches Teufelswerk. Doch plötzlich stirbt Lone, und die bis dato recht hingerotzte Komödie über eine schrecklich nette Familie wendet sich wenigstens vorübergehend zum vollwertigen Drama: Magnus kommt weder psychisch noch physisch klar, Nikolaj soll zu früh erwachsen Verantwortung tragen – und kompensiert den Druck durch Rebellion. Sicherheitsnadeln in Ohr und Wange sowie grüne Haare verkünden: „Punk!“ Und zwar, weil da feine Unterschiede winken, ein echter. Was im Verständnis des Films bedeutet, alles prinzipiell scheiße zu finden, permanent Speichel abzusondern und manchmal tätliche Angriffe zu wagen. Falls es tatsächlich so abgelaufen sein sollte, kann man bloß erleichtert aufatmen, daß sich diese Strömung ausgelaufen hat.
Indes war im hiesigen Kontext Lones Tod, bis auf einige übertriebene und -flüssige Halluzinationen gegen Ende, relativ vergebens, es hätte wohl gleichsam etwas anderes herhalten dürfen, um Nikolajs Sinneswandel auszulösen. Magnus geht’s auch superplötzlich wieder gut, und die Geschichte ruckelt sich jetzt am von althippieväterlicher Seite nicht nur akzeptierten, sondern gar unterstützten Aufmucken des Jungen inklusive Gründung einer eigenen Band, Schrammelmusik und verbotenen Küssen ab. Wenn sie nicht gerade den Glauben vertritt, im Nudistencamp Brüste jeden Alters einfangen zu müssen. Eine gewisse Grundfaszination birgt all das zwar irgendwie schon, trotzdem mag man sich in ruhiger Minute, während derer die Sex Pistols nicht kreuz und quer übers Trommelfell dröhnen, fragen: Was soll’s – und worum geht’s hier? Lag Buch und Regie möglicherweise ganz simpel daran, selbst den Revoluzzer zu spielen, Konventionen zu unterwandern, sich zu verweigern?
Sollte diese Vermutung zutreffen, sei herzlich zum Gelingen gratuliert. Ob es nun allerdings wirklich Sinn macht, wie ferngelenkt gegen empfundene Barrikaden zu stürmen und dabei lauthals „Anarchie!“ zu krakeelen, steht auf einem vollkommen anderen Blatt.
Originaltitel: SØNNER AV NORGE
Norwegen/S/DK/F 2011, 88 min
FSK 12
Verleih: Alamode
Genre: Tragikomödie, Erwachsenwerden, Musik
Darsteller: Sven Nordin, Åsmund Høeg, Sonja Richter, John Lydon
Regie: Jens Lien
Kinostart: 05.07.12
[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...