Originaltitel: SORRY WE MISSED YOU
GB/F/Belgien 2019, 100 min
FSK 12
Verleih: NFP
Genre: Drama
Darsteller: Kris Hitchen, Debbie Honeywood, Rhys Stone
Regie: Ken Loach
Kinostart: 30.01.20
Trockenbau, Klempnern, Verputzen, Schreinern, Fliesen legen ... Ricky hat wirklich alles gemacht, alles versucht, und obwohl sich Abby als mobile Altenpflegerin komplett aufreibt, reicht es für die beiden und ihre zwei Kinder nur mit Ach und Krach von Monat zu Monat. Und immer sitzt einem einer im Nacken, weshalb nicht verwundert, daß Ricky diese Chance nutzen will: selbständig sein, der eigene Herr, Franchise ist das Zauberwort.
Die Aussichten, etwas mehr zu verdienen, sich in naher Zukunft vielleicht doch noch ein eigenes Haus leisten zu können, endlich selbst zu bestimmen, lassen Ricky wegsehen und überhören, wenn der windige Franchisegeber darauf pocht, daß es nicht um Verträge, sondern Leistungserfüllung geht, wenn er Schwammiges wie „Du arbeitest nicht für uns, Du arbeitest mit uns!“ verlauten läßt, wenn sich jeder um Krankenversicherung selbst kümmern muß, und Urlaub ohnehin nur was für Faule ist. Ricky heuert in einer Branche an, die wohl zu den härtesten der Welt gehört: Kurierdienst. Das Zustellen von Paketen. 14 Stunden-Tage, sechs davon in der Woche, verdient wird erst, wenn die Lieferung tatsächlich beim Empfänger angekommen ist. Der Alltag: Staus, abwesende Empfänger, feindselige Nachbarn und diese feudalen Knebel- und Knechtprämissen durch die übergeordnete Firma. Freiheit sieht wirklich anders aus. Und trotzdem stürzt sich Ricky in das Wagnis und bringt Abby in Schwierigkeiten, als er das für ihre Arbeit an sich unverzichtbare Auto verkauft, um sich einen klapprigen Transporter leisten zu können. Scanner, Pinkelflasche, Routenplan ... die erste Ochsentour kann beginnen.
Ken Loach wird in Kürze 84, man darf also zu Recht bangen, wer bitte nach ihm von den Zuständen unserer Zeit, von den Brüchen in unserer Gesellschaft filmisch derart klug, ruhig und trotzdem aufrüttelnd erzählen wird. Einmal mehr wird das Bild moderner Versklavung und gesellschaftlicher Verkommenheit freiziseliert, wonach ein Mensch nur zählt, wenn er sich über die Arbeit definieren kann und zahnrädchengleich funktioniert, wenn allein der Markt bestimmt, wie wenig Menschlichkeit man sich noch leisten darf. Loach klagt in seinem neuesten Film das Ausnutzen von Not ebenso an, wie er die durch Personal- und Zeitmangel geradezu inhumanen Zustände in der Altenpflege kritisiert. Er tut dies filmisch, anrührend, zeigt keinen Lehrerfinger nirgends und steht damit einmal mehr für unverzichtbares, sozialkritisches, bewegendes und dabei unterhaltsames Kino.
Wir schauen in vom Leben müde Gesichter, auf abgeriebene Beziehungen, auf geplatzte Hoffnungen und die Konflikte der Malochenden und deren Kinder, die ganz sicher von einem anderen Leben träumen. Das Leben bleibt auf der Strecke, wenn einer wie Ricky im Dauerlauf arbeiten muß, wenn sein Tag von der ETA, der Estimated Time Of Arrival, bestimmt wird, wenn nicht mal Zeit zum Pinkeln bleibt, gar der eheliche Sex nur mit durchgeplanten To-Do-Listen noch machbar scheint. Eine Familie zerbricht beinahe an den Umständen.
Loach ist sicher ein mahnender, kritischer Erzähler, doch er ist dabei immer mehr Realist als Pessimist, schon deswegen wärmen kleine, zärtlich inszenierte Momente des Zusammenseins gehörig durch, wie das familiäre Abendessen mit vom Inder Bestelltem. Dies sind milde Kontrapunkte in einer Zeit, in der man nicht krank werden, keine Schwäche zeigen darf. Mit dieser klugen, bewegenden und so wunderbar auflehnerischen Geschichte hat sich Loach einmal mehr als der letzte große Humanist des Kinos erwiesen. Möge er 100 Jahre alt werden. Mindestens!
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.