Ein Sommer der Entscheidung. Ein schlaksiger Junge, dessen Leib schier über sich hinauswachsen will – in die Länge, in die Tiefe, in die Schuhgröße. In der allgemeinen Breite fehlt es allerdings, wie der alte Tomislav mit einem jovialen Klaps auf Aris schmale Oberarme feststellt. Wo sollen die Muskeln auch herkommen bei einem 16jährigen, der bislang in Reykjavík in einem Knabenchor sang und nun im gottverlassenen Westen Islands heimisch werden muß?
Dabei sollte Ari mit allem hier so vertraut sein: mit seinem Vater, der seit der Scheidung noch durstiger geworden ist. Mit der Oma, deren Herzlichkeit ihn überfordert. Mit der Sandkastenfreundin Lára, die inzwischen Brüste hat – und einen bissigen Freund. Mit dem rauhen Umgangston, der leicht mit Feindseligkeit verwechselt werden kann. Mit dieser furchteinflößend majestätischen Landschaft, vor der man sich ohne Alkohol immer klein fühlt. Und diesem fast fertig eingerichteten Haus, das jetzt Ruine ist – tapeziertes Denkmal für einen gescheiterten Familienplan, aus dem die Mutter vor Jahren ausbrach. Sie hat eine neue Liebe gefunden und erobert mit ihr Afrika. Ari, geparkt beim fremd gewordenen Erzeuger, weiß noch nicht, wonach er hier suchen soll. Nach dem ersten Sex? Nach dem zweiten? Oder doch nach der ersten sinnstiftenden Lebenslüge?
„Coming Of Age-Drama“ nennt man diese Art von Geschichten – so summarisch wie ungenügend im Detail. Auf das Detail aber kommt es an. Ganz besonders in dieser vor Understatement, vor trügerischer Stille, vor erzählerischer, buchhalterisch geiziger Ökonomie nur so strotzenden Würgeattacke auf den sprichwörtlichen „süßen Vogel Jugend.“ Ein hübsches Tier, trotz aller nostalgischen Implikationen, war das – filmisch gesehen – wohl nie. Bei Rúnar Rúnarsson ist es zerrupfter, existentieller als je zuvor. Zerbrechlich in jedem Fall. „Konventionell“ schimpfte man seinen Genre-Beitrag zuweilen. Und meinte damit wohl das Insistieren auf eine erzählerische Abfolge, auf ein narratives Davor und Dazwischen und Danach.
Freilich ohne die künstlerisch fruchtbaren Lücken dazwischen gebührend zu würdigen. Aber dort liegt der Schatz, liegen die Bildkathedralen, vor denen man sich verneigen möchte. Ambivalente, fein kadrierte Andachtsstätten für zarte Vögel und fürs triviale Vögeln – sehr verzweifelt, sehr unschuldig und sehr verstörend.
Originaltitel: SPARROWS
Island/DK/Kroatien 2015, 99 min
Verleih: Peripher
Genre: Drama, Erwachsenwerden
Darsteller: Atli Óskar Fjalarsson, Ingvar Eggert Sigurðsson, Rade Šerbedžija
Stab:
Regie: Rúnar Rúnarsson
Drehbuch: Rúnar Rúnarsson
Kinostart: 01.12.16
[ Sylvia Görke ]