Kurzer mythologischer Abbieger vorweg: „Syngué Sabour“ lautet in Persien der Name eines schwarzen Steins, dem eine wichtige Aufgabe zufällt – er absorbiert Geheimnisse und Geständnisse, Leid und Trauer. Wenn er zerspringt, ist die Person, welche ihm das alles anvertraute, frei.
Okay, weiter. Eine junge Frau hockt in ihrer schäbigen Wohnung in Afghanistan. Draußen fallen Schüsse, detonieren Granaten. Wer konkret gegen wen kämpft, wird nicht thematisiert, scheint aber auch nicht von Belang, Krieg herrscht immer, fordert Opfer und zerstört Leben. So sitzt die Frau also neben ihrem Mann, der einst in die Schlacht zog und nun komatös vor ihr liegt. Kein Held, kein Verteidiger des Vaterlandes, die Wunde fügte ihm ein Kamerad im Streit bei. Zynisch? Klar. Und erst der Anfang eines viel komplexeren Gedankenpuzzles.
Die Frau tupft ihrem Mann die Stirn, liebevoll, kümmert sich und pflegt. Irritierend nur der zärtlich geäußerte Wunsch, ihn möge eine verirrte Kugel erlösen. Und dann, plötzlich, beginnt sie zu reden. Ein Selbstgespräch. Über Dinge, die sie nie gesagt hätte, aus Angst. Sie seziert die Ehe, ihre Rolle als Anhängsel des Gatten, als Mädchen und Frau ...
Daraus gerät ein Film, der fast komplett auf schmalen Schultern ruht. Schultern, die meist verhüllt werden. Teil eines Körpers sind, der nichts von Körperlichkeit weiß. Die Tante der namenlosen Frau bildet einen Gegenpol: Wegen Unfruchtbarkeit und ergo Nutzlosigkeit verjagt, arbeitet sie in einem Bordell – und kennt die Männer. Das Anschleichen, das Begehren, das Vergewaltigen. Die Frau hingegen erlebte, wie der Vater ihre Schwester an einen wesentlich älteren Mann verkaufte.
Das wird ruhig erzählt, schwebend, paradox sinnlich, in Bildern großer Schönheit und noch tieferer Grausamkeit. Jedes Wort, vorgetragen von einer berückend intensiven Hauptdarstellerin, bricht den Panzer ein Stück mehr auf, schenkt den Blick auf eine Frau, deren Schicksal keine Härte wachsen ließ, die für und um andere weint anstatt sich selbst. Und sich faszinierend löst aus dem Bannkreis dieser Männerwelt. Ihren nominellen Lebenspartner zum Syngué Sabour macht, zum Stein der Geduld.
Wenn jener schließlich zerbricht, geschieht es durch ein Duell dreier Augenpaare. Die letzte, lange und sich einbrennende Kamerafahrt auf ein Gesicht gewährt die Sicht auf ein mit hohem Preis bezahltes freies Selbst.
Originaltitel: SYNGUÉ SABOUR
F/Afghanistan/D/GB 2012, 102 min
FSK 12
Verleih: REM
Genre: Drama, Literaturverfilmung, Schicksal
Darsteller: Golshifteh Farahani, Hamid Djavadan, Massi Mowrat, Hassina Burgan
Regie: Atiq Rahimi
Kinostart: 10.10.13
[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...