D 2024, 182 min
FSK 16
Verleih: Wild Bunch

Genre: Drama, Familiensaga

Darsteller: Corinna Harfouch, Hans-Uwe Bauer, Lars Eidinger, Lilith Stangenberg, Robert Gwisdek, Anna Bederke, Saskia Rosendahl, Ronald Zehrfeld

Regie: Matthias Glasner

Kinostart: 25.04.24

6 Bewertungen

Sterben

Und davor das nackte Dasein

Matthias Glasner faßt Eisen an, solange sie noch heiß sind. Oder es sind solche, die sich nie abkühlen – thematisch und künstlerisch, zeitlos und gnadenlos. Bei diesem Regisseur gibt es zudem „Zwischenfilme“, die eher Auftragsarbeiten gleichen. Danach und demnächst, darf man sicher sein, wirft Glasner wieder groß. STERBEN ist keiner dieser Zwischenfilme, so wie GNADE (2011) keiner war, nicht THIS IS LOVE (2009) und DER FREIE WILLE (2006) erst recht nicht. STERBEN ist Glasners persönlichster Film. Das muß nicht immer gutgehen.

Nach der Weltpremiere auf der Berlinale war oft die Rede davon, die Handlung würde sich um eine dysfunktionale Familie drehen. Falls dem so sein sollte, wäre zu klären, was im Kern eine funktionale ausmacht. Vielleicht zeigt sie sich erst, wenn sie zerbröselt. Wenn wirklich gelitten wird und gestorben. Wenn einer für den anderen da sein sollte mit der eigenen keimenden und schwindenden Hoffnung, mit Ohnmacht und Wut, Kraft und Kraftlosigkeit, vor allem aber mit dem, was die Familiengeschichte zuvor geschrieben und aus Mutter, Vater und den Kindern gemacht hat. Bei Lissy und Gerd, Tom und Ellen Lunies ist nicht mehr viel übrig von dem, was es nie in Hülle und Fülle gegeben hat. Zuvorderst Liebe.

Die Eltern sind über 70, Sohn und Tochter verstreut im Land. Zustände teilt man sich per Telefon mit. „Ruf mich mal an, Tom, es geht um Papa“, sagt Lissy mit dem Hörer in der Hand und sitzt dabei selbst mit Nachthemd im Schlamassel ihres Kots. Gerd ist schon wieder im Hausflur oben. Ohne Hose. Einen Infarkt später scheinen die organisatorischen Dinge fürs Erste geklärt. Der demente Vater wird ins Heim nebenan verbracht, Mutter fortan für acht Euro die Stunde von der Nachbarin versorgt. Spätestens Weihnachten sieht es so aus, als werden sie noch Freundinnen.

Tom kommt aus Berlin, obwohl es wieder mal nicht paßt. Der Dirigent ringt schwer mit den Proben eines Stückes seines Freundes Bernard, das „Sterben“ heißt und wirklich zum Sterben kompliziert ist, wie der Mann, der es erschaffen hat. Selbst mit dem Kind, dem Tom gerade in die Welt verhalf, ist es alles andere als einfach: Es ist nicht seines, Liv, die Mutter, nur die enge Ex, aber sie kann Moritz, den Vater, noch immer nicht leiden.

Läuft wenigstens bei Toms Schwester Ellen alles glatt soweit? Dieser Zahn muß schnell gezogen werden, nicht nur im übertragenen Sinne. Ellen trinkt nachgerade intravenös und fällt schon mal den Patienten in der Arztpraxis, in der sie arbeiten soll, übermüdet aufs Gesicht. Und jetzt will der Herr Doktor aus einer Affäre mit Ellen sogar etwas Ernstes machen. Was, bitte, soll das denn sein? Mag man sich gleichsam fragen, wenn man als Betrachter im Saal die völlig andere Temperatur von Ellens Episode zu erfühlen versucht. Scheitern wäre möglich.

STERBEN findet, in Kapitel unterteilt, seine sinfonischen Töne im manchmal wild wechselnden, dann wieder austariert feinen und über längere Zeit schwebenden Mischklang aus bitterböser Grimmigkeit und ironischer Brechung. Das ist traurig. Denn das Sterben (bis hin zur Sterbehilfe als Freundesdienst) ist natürlich dabei, zumeist aber geht es ums Leben davor. Also wird es auch witzig und absurd. Beiläufig und zugespitzt. Von jetzt auf gleich herzgrapschend wie abstoßend.

Das alles ist, bis ins kleinste Nebenfach, in diesem Ensemblefilm reinweg grandioser darstellender Kunst genauso gespielt. Die viertelstündige biographische Abrechnung zwischen Corinna Harfouch und Lars Eidinger am Kaffeetisch gleicht dem Besuch in der Meisterschule. Lilith Stangenberg gibt einfach die beste Betrunkene, wenn sie nüchtern ist, Hans-Uwe Bauer einen der bislang ergreifendsten, schlichtweg verdampfenden alten Menschen in einem Kinostück, Robert Gwisdek einen auf seinen Irr- und Umwegen so derartig gefestigten Mann, daß man ihn überhaupt nicht aus seinem Dilemma befreien möchte, es sei denn, mit den von ihm selbst vorgeschlagenen Methoden. STERBEN also sollte gesehen werden – am besten, bevor es ansteht.

[ Andreas Körner ]