Ausdruck und Erinnerung. Das ist die Essenz von Kommunikation. Und Alice ist eine Meisterin der Kommunikation. Ihre Schriften haben wissenschaftlichen Bestand, sie lehrt Linguistik, sie mag es, gar nicht eitel, eher berufsverliebt, wenn sie gehört und verstanden wird. Wenn sie sich ausdrücken kann. Und plötzlich, mitten in einem Vortrag, kommt Sand ins Getriebe, ein einziges Wort fällt ihr nicht ein, sie stockt kurz, einen minimalen, für das Auditorium kaum wahrnehmbaren Anfall von Verzweiflung wischt die geschulte Rhetorikerin dann gerade noch so mit einem Witz weg. Es folgen kleinere Aussetzer und Verwechslungen, das Brotpuddingrezept ist weg, und eines Tages verläuft sich Alice beim Joggen – auf dem ihr reichlich bekannten Campus-Gelände. Krebs wünscht sie sich, dann würden die Menschen Schleifchen tragen, sie könnten ihrem Mitgefühl über derartiges Unrecht, haptisch belegbar als Geschwulst, Ausdruck verleihen. Der Arzt packt ihr jedoch eine ganz andere Diagnose auf die Schultern: Alzheimer. In perfidester Form, eine, die sich recht jung manifestiert, eine, die besonders bei intelligenten Menschen schnell fortschreitet. Alice ist gerade 50, Alice ist Professorin.
Erst einmal: STILL ALICE ist zu wünschen, daß der Zuschauer sich offen genug zeigt bei einem Thema, das einem gemütlichen Kinoabend auf den ersten, oberflächlichen Blick in die Beine grätscht. Wobei man anschließen muß, daß STILL ALICE, wenn auch aufwühlend und zu Tränen rührend, alles andere als ein Downer ist. Diese Alice ist ein kämpferischer Mensch, der sich offensiv seiner Familie anvertraut. Ihre drei Kinder sind sprachlos, John, ihr Mann, reagiert, wie Männer oft reagieren: „Das muß nichts heißen, da braucht es eine Zweitmeinung!“ Bei John wird das hilflos Negierende irgendwann im Film zu einer Reaktion aus Ausblendung und Aggression. Was glaubwürdig ist und dem Film gut tut, weil er somit Sentimentalität von sich streift. Auch John hat noch ein Leben, klar, Alice gehört dazu, für immer, aber dieser bärige Lebenspartner ist zum Glück keiner von diesen im Kino satt gesehenen Samaritern, die vollends hinter der Krankheit ihrer Frau so gutmenschelnd verschwinden. Natürlich laufen einem die Tränen, wenn Anna, die älteste Tochter, zu ihrer Mutter sagt: „Du bist so jung, Mom!“
Und trotzdem: Daß STILL ALICE bei aller Traurigkeit, die nun einmal gegeben ist, wenn man Zeuge eines unaufhaltsam abtauchenden Menschen wird, wenn es nur eine böse feixende Illusion ist, sein Ende planen zu wollen, dennoch kein demotivierender Film ist, liegt vor allem an der facettenreich geschriebenen Titelfigur und natürlich an Julianne Moore. Ihr gelingt es, mit einem augenzwinkernden „Das muß ich vergessen haben“ Entsetzen und Beklemmung auszuhebeln, die unausweichlichen kompromittierenden, an Substanz und Würde nagenden Szenen wie die des Erinnerungstests beim Arzt so „echt“ umzusetzen. Moore spielt Alices geistige Destruktion mit Verzweiflung, Ohnmacht, Wut und zu Beginn mit einer Kampfesbereitschaft, der eine Grandezza eigen ist, die zu beschreiben kaum möglich ist.
Der große Unterschied zum thematisch relevanten und gleichsam beeindruckenden Film AN IHRER SEITE ist, daß es in STILL ALICE weniger um den Verlust des Partners geht, dafür wird dem Empfinden einer großen Scham Platz eingeräumt. Dieses berufliche, dieses familiäre, dieses große Alice-Verschwinden steht im Zentrum, und Julianne Moore ist eben die Schauspielerin, die eine derartige Zerbrechlichkeit, die uns Menschen anpappt, glaubwürdig spielen kann.
Originaltitel: STILL ALICE
USA 2014, 101 min
FSK 0
Verleih: Polyband
Genre: Drama
Darsteller: Julianne Moore, Alec Baldwin, Kristen Stewart
Regie: Richard Glatzer, Wash Westmoreland
Kinostart: 05.03.15
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.