Zu den Klischees über Island gehört, daß es eigentlich nur aus Reykjavík und ganz viel Landschaft drumherum besteht. Über den isländischen Film meint man zu wissen, daß er weder da noch dort zur Geschwätzigkeit neigt. So gesehen, kommt Grímur Hákonarsons Versuch über den Schafbock als Sternzeichen einer ruralen Nationalkultur sämtlichen Erwartungen entgegen. Und versenkt sich entschieden, aber doch anders als erwartet ins Landleben – vierschrötig, maulfaul, handgreiflich … und auf eine unwiderstehliche Weise klug.
Den Auftakt zur dramatischen Komödie um Menschen, Schafe und alles Verbockte dazwischen bildet ein Schönheitswettbewerb. Freilich einer um den imposantesten Schafbock weit und breit. Denn in dem randständigen isländischen Tal bekommen die Vierbeiner mindestens so viel Aufmerksamkeit wie die Zweibeiner. Wieder einmal stehen sich dabei die Brüder Gummi und Kiddi grimmig gegenüber, fast sinnbildhaft vertreten durch ihre größten Zuchterfolge. Verbohrtes Schweigen auf beiden Seiten, kein Wort seit 40 Jahren, trotz direkt benachbarter Gehöfte. Als Gummi am preisgekrönten Bock des Bruders Anzeichen für eine Tierseuche entdeckt, und das Veterinäramt die Tötung aller Viehbestände der Gegend beschließt, gerät die fragile Koexistenz der Männer zur existentiellen Zerreißprobe.
Hákonarsons Neudeutung des Naturalismus als großzügige Zusammenschau ausgewählter Details verbindet Ordinäres mit Erhabenem: abgewetzte Ärmel, verwohnte Möbel, gebrauchte Körper, Stallgeruch, Einsamkeit und einen spröde gefilmten Lebensraum, der sich langsam, aber sicher neben die Hauptdarsteller in die erste Reihe mogelt. Was man so leichtfertig „Komik“ nennt, hat hier einen düsteren, vielleicht genuin isländischen Zungenschlag. Aus „Schäfchen zählen“ wird ein schriller Überlebenskampf mit tragischer Dimension. 147 Stück zählt Gummis Herde, bevor er kaputtmacht, was man ihm kaputtmachen will. Kiddi betäubt sich mit Schnaps, bis er beinahe selbst kaputtgeht. Doch es gibt Hoffnung: ein paar vor den Beamten versteckte Tiere zum Fortbestand der Art und einen Pakt, unter Brüdern.
Den Fortbestand solcher speziellen Blicke auf die Welt hat sich die Cannes-Sektion „Un Certain Regard“ zur Aufgabe gemacht und bedachte das ungewöhnliche Arche-Noah-Stück mit dem Hauptpreis. Möge er Flügel verleihen: dem Film, den Menschen, den Schafen!
Originaltitel: HRÚTAR
Island/DK 2015, 93 min
FSK 6
Verleih: Arsenal
Genre: Tragikomödie, Schräg
Darsteller: Sigurður Sigurjónsson, Theodór Júlíusson
Stab:
Regie: Grímur Hákonarson
Drehbuch: Grímur Hákonarson
Kinostart: 31.12.15
[ Sylvia Görke ]