Originaltitel: TOUCHING THE VOID
GB 2003, 106 min
Verleih: Kinowelt
Genre: Dokumentation, Drama
Darsteller: Joe Simpson, Simon Yates
Regie: Kevin Macdonald
Kinostart: 29.04.04
"Ich kann dir sagen: was ich getan habe, kein Tier hätte es fertig gebracht." Antoine de Saint-Exupéry, der Schöpfer des kleinen Prinzen, erinnert sich in "Wind, Sand und Sterne" an diese Worte des Postfliegers Guillamet, der sich nach einer Notlandung in den Anden fünf Tage und vier Nächte lang voranschleppt.
Im Juni 1985 wagen sich die beiden jungen Engländer Joe Simpson und Simon Yates auf den letzten unbestiegenen Berg der Peruanischen Anden. Der Siula Grande ist nur ein Sechstausender, doch seine ungewöhnlich steilen Rinnen und seine tückischen Überhänge aus Schnee und Eis haben alle bisherigen Expeditionen scheitern lassen. Der Eklat passiert kurz nach Beginn des Abstiegs. Joe stürzt; sein Wadenbein wird beim Aufprall durch die Kniescheibe getrieben. Normalerweise, sagt Simon später, bedeutet das den Tod für beide Bergsteiger. Trotzdem versucht er die Rettung: Er knotet ihre Sicherungsseile aneinander und läßt Joe, der vor Schmerzen brüllt, Stück für Stück, ab. Dann kommt ein Schneesturm auf. Dann hängt Joe über einer Steilwand, die viel zu hoch ist für das kurze Seil. Joe erkennt die Falle. Simon hört Joes Rufe nicht; die weiße Sturmwand schluckt Laut und Sicht. Simon weiß nicht, das Joe über einem bodenlosen Abgrund hängt. Nach drei Stunden durchschneidet er das Seil. Joe stürzt in die Tiefe. Und hier beginnt die Geschichte.
STURZ INS LEERE ist ein packendes Doku-Drama, dem das seltene Kunststück gelingt, gleichzeitig großartiges Erzählkino zu sein. Ein weniger inspirierter Regisseur als der Brite Kevin Macdonald hätte aus dem authentischen Stoff einen Phoenix-Abenteuer-Bilderbogen zusammengeschustert. Statt mit den handelsüblichen Tricks Authentizität vorzugaukeln, konfrontiert Macdonald sein Publikum lieber mit der Wirklichkeit des Kinos: Da funktioniert der Ton so effizient wie in einem guten Horror-Film, da sind die Berge nicht nur schön ins Bild gesetzt, sondern in ihrer Majestät auch immer bedrückend, teilnahmslos-bedrohlich.
Die Kraft, die den Menschen zum Leben und zu anderen Menschen treibt, die ihn träumen, spintisieren, überleben läßt, diese Kraft, die ihn tun läßt, was kein Tier vollbringen könnte, das ist genau die Kraft, die das Kino beseelt: das ewige Bedürfnis, Einkehr in den Kreis der Menschen zu halten, Zeugnis abzulegen, eine Geschichte zu erzählen. Diese Geschichte hier hätte auch anders, aber kaum besser erzählt werden können.
[ Christian Seichter ]