„Inzest ist eines der letzten Tabus, die es noch gibt“, verkündete Regisseur Christoph Stark im Interview, krempelte die Ärmel hoch und machte sich daran, die Tabu-Bastion zumindest schon mal filmisch zu stürmen. Mit Hilfe eines Trojanischen Pferdes namens Georg Trakl. Im Jahre 1914 starb der im Alter von 27 Jahren an einer Überdosis Kokain. Ein Unfall möglichweise, wahrscheinlicher aber ein Selbstmord. Somit von einem Leben lassend, das – neben der Hervorbringung einiger der schönsten Gedichte in deutscher Sprache – vor allem von Drogen, Exzeß und grauenvollen Depressionen gekennzeichnet war. Und von einer verhängnisvollen Liebe: der zu seiner Schwester Grete.
Nun bleibt auch bezüglich eines Inzestes zu sagen: möglicherweise, sogar wahrscheinlich. Bewiesen ist er nicht. Natürlich ist das kein Grund, ihn nicht filmisch aufzubereiten. Zumal Trakls Leben insgesamt lohnender Dramastoff ist. Einer, der dann eben auch noch „letzte Tabus“ bereithält. Was Stark dann insgesamt in klassischer Arthouse-Kino-Schönschrift auf die Leinwand transportiert. Da schaut dann eben, nur als Beispiel mal, auch eine Hure mit Holzbein nicht mehr aus wie bei Grosz oder Dix, sondern hat was von der Ansehnlichkeit einer telegenen Requisite aus dem Realismusfundus. Dazu dichtet der Dichter mit wirrer Locke über verschwitzter Stirn. Irre funkeln die Augen, schnell geht der Atem. Ja, so ist das, wenn die Kreativität expressiv pulsiert. Das macht flugs auch klar, daß für so einen Typ die bürgerliche Welt einfach zu eng und ohne Verständnis ist. Praktisch aber insofern, daß Trakl, bürgerlich als Apotheker arbeitend, berufsbedingt an die Zutaten kommt, die ihn in Rausch versetzen. Neben der Dichtung. Und neben Grete.
Die wird gespielt von Peri Baumeister. Eine echte Neuentdeckung mit Präsenz in Leichtigkeit. Das diametrale Gegenstück zu Lars Eidingers Trakl. Dessen darstellerischer Berlin-Mitte-Habitus samt der dazu passenden Physiognomie ist hierzulande ja irgendwie angesagt, und vielleicht ist man ja nur total ahnungslos und ignorant, wenn man konstatiert: Nee, das taugt nicht wirklich was. Neudeutscher Blümchenkaffe. Wie auch Starks Film. Emphase koffeinfrei. Trotz Dichtung und Inzest, Kokain und Wahrheit – Kino ohne Seele. Trakl bleibt verborgen hinter möglich und wahrscheinlich. Und das ist letztlich auch gut so.
D/Israel 2011, 100 min
FSK 16
Verleih: Camino
Genre: Drama, Liebe
Darsteller: Lars Eidinger, Peri Baumeister, Rainer Bock
Regie: Christoph Stark
Kinostart: 31.05.12
[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.