William S. Burroughs, Tennessee Williams, Jean Genet, Francis Bacon – sie alle waren dort. Sie alle waren gefesselt von Tanger, der marokkanischen Hafenstadt. Nein, nicht nur, weil sie da ihr Schwulsein auf eine Art und Weise ausleben konnten, die in Europa oder den USA unmöglich war. Tanger traf den Nerv abendlandmüder Abendländer, war auf eine subtile Art die Wirklichkeit gewordene Imagination, die sich westliche Intellektuelle und Künstler von einer orientalischen Stadt machten.
Heute scheint das nicht viel anders. Denn Irene von Albertis TANGERINE umkreist genau diese Diskrepanz zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Die Bilder, die man sich macht und die Realitäten, die sie verbergen: Das Pärchen Pia und Tom verbringt einen Sommer in Tanger. Ihre Beziehung steckt in einer Krise. Tom will in Tanger, wie einst die Rolling Stones, Kontakte zu traditionellen Sufi-Musikern knüpfen. In einem Club treffen sie dabei auf Amira. Die schöne Tänzerin fasziniert sie. Es entwickelt sich eine auch erotisch aufgeladene Dreierkonstellation, die, bei aller wachsenden Nähe und Zuneigung, vor allem darauf fußt: Mißverständnisse, gegenläufige Intentionen, Ignoranz.
Tanger in der Innen- und der Außenschau. Und die lässige Souveränität bei punktgenauem Beobachten, mit der Irene von Alberti beides verknüpft. Da ist also Amira, die in einer Frauen-WG von Prostituierten lebt. Eindrücklich in seiner dokumentarischen Nüchternheit zeigt da TANGERINE den schmalen Grat, auf dem diese Frauen sich bewegen in einer patriarchalischen Gesellschaft, von der sie nichts zu erwarten haben. Keinen Respekt, keine Rechte, keine Fairneß. Bei diesen Frauen liegen von Albertis Sympathien, die sich Pia und Tom erst im Laufe des Filmes verdienen müssen. Sind beide doch anfänglich noch mit diesem wohlmeinenden Habitus des weltläufigen Europäers genau das, was sie nicht sein wollen: versnobt und ignorant.
Dabei geht es in von Albertis Film eben nicht um Entlarvungen und Polemik. Daß die Wahrnehmung des jeweils Anderen, des Fremden, immer auch die Projektion des eigenen Ich ist; daß zudem jedwedem Interesse oftmals ein anderes, ein tiefer liegendes Interesse vorausgeht, dessen Intentionen oft nicht kommunizierbar sind, daß wir uns also wohl nie wirklich richtig verstehen – davon erzählt TANGERINE. Und natürlich von dieser Stadt, die es hier vermag, beides zu sein: das Abbild eines schwärmerischen Blickes und die Wirklichkeit dahinter.
D/Marokko 2008, 95 min
Verleih: Filmgalerie 451
Genre: Drama
Darsteller: Sabrina Ouazani, Nora von Waldstätten, Alexander Scheer
Regie: Irene von Alberti
Kinostart: 18.06.09
[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.