Daß dies ein trauriger Film sein würde, wird bereits in der ersten Szene klar. Die Mutter der hier sich gleich umfassend selbstporträtierenden Hauptfigur trägt trällernd Jesus-Preisungen vor, sie trägt ein T-Shirt mit dem Schriftzug von Hugos DIE ELENDEN. Der Musical-Version.
Daß dies auch ein trauriger Film ist, liegt mit daran, weil er einmal mehr verdeutlicht, welche Aufwendungen an Optimismus und Kraft oft notwendig sind, um von einem ziemlich mißratenen Start ins Leben wieder in sanftere Kurven zu geraten. Und Jonathan Caouettes Leben beginnt wahrlich nicht rosig, als Kind einer alleinerziehenden geisteskranken Mutter, in der texanischen Provinz. Zeitweise verbringt er seine Kindheit in sogenannten Fosterheimen, in denen er gefesselt, gedemütigt, mißbraucht wird. Seine Mutter, zu der er mit einer unbeschreiblichen Liebe hält, wird über 100 Krankenhausaufenthalte in knapp 30 Jahren verbuchen können. Und da dies aber auch ein hoffnungsvoller Film ist, schlägt Jonathan dem fies-prophetischen Spruch "Kranke Eltern ziehen kranke Kinder auf" einen Haken, in dem der Junge seit seinem 11. Lebensjahr alles, was ihn bewegt, filmisch festhält. Er kompensiert durch Expression, die Flucht nach vorn in ungeschönte rohe Clips. Und daraus setzt sich im Groben dieser irre, penetrante (weil intim zu versöhnlich klänge) und tief berührende Exkurs in die Welt von Homemovies, Splitscreens und allerhand adoleszenten Filmwüstereien zusammen. Jonathan dreht Sequenzen, in denen seine zahnlose Oma pausenlos ruft "Help! I Need My Teeth!", er filmt Vulgär-Erotisches wie SPIT & BLOOD BOYS und verarbeitet die vor seinen Kinderaugen erlebte Vergewaltigung seiner Mutter in einer markerschütternden Performance als kleine Hilary, die selbst zum Mißbrauchsopfer wird. Das dreht Jonathan mit 11!
TARNATION ist eine - so noch nie gesehene - Chronik vom Wahnsinn und unbeirrbarer Liebe, die vom halbwüchsigen Jonathan berichtet, beim Gang ins Visions, der ersten Schwulenbar, wo man ihn als Little Goth Girl beim lippensynchronen Song-Contest sieht. Später lernen wir seinen ersten Freund Michael kennen und erfahren von seinem Traum, einmal "Hair" als Musical neu zu inszenieren, in dem dann Joni Mitchell seine Mama, Nina Hagen und Klaus Nomi die fiesen Fosterheimeltern gäben.
Es ist das faszinierende Dokument eines Lebenswütigen, der ganz jung wöchentlich an Suizid dachte, die Wohnung zerlegte und später seinem ihm bis dato unbekannten Vater sogar noch Liebe entgegenbringt, obwohl der ihn beim allerersten Telefonat abschmiert: "Du klingst schwul. Wenn Du AIDS hast, will ich nichts mit Dir zu tun haben".
Diese Reise durch das Dickicht eines komplizierten (Über-) Lebens taugt auch als spannender Trip durch die 80er-Jahre-Video-Kultur. Vielmehr aber ist sie ein beeindruckendes Zeugnis eines kämpferischen, eines unberechenbaren, eines hochinteressanten Menschen.
Originaltitel: TARNATION
USA 2004, 88 min
Verleih: Arsenal
Genre: Dokumentation, Psycho, Schicksal
Stab:
Regie: Jonathan Caouettes
Produktion: Gus van Sant, John Cameron Mitchell
Kinostart: 06.07.06
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.