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Ten

Zehn Atemübungen für den Kopf

In Teheran ist eine Frau im Auto unterwegs, und wir sollten uns gut mit ihr stellen, denn einen Film lang werden wir ihre Beifahrer sein. Aus dem Blickfeld ins Off verbannt, muß sie sich zunächst gleichsam abwesend gegen die Vorwürfe ihres kleinen Sohnes Amin wehren. Wenn er sich nicht gerade die Ohren zuhält, beschimpft und beleidigt er sie. Sein trotzig süßer Bengelmund wird zum Sprachrohr aller fragwürdigen Konventionen, die sie mit der Scheidung von seinem Vater verletzt hat. Amin steigt entrüstet aus, zum ersten Mal fällt der Blick ins Gesicht der Mutter. Sie fährt weiter.

In zehn durchnumerierten, mehr thematisch als chronologisch zusammenhängenden Episoden begleitet Regisseur Abbas Kiarostami diese unstete Reise mit wechselnden Beisitzern. Eine fremde alte Frau läßt sich zum Beten in ein Mausoleum chauffieren, eine Hure diskutiert mit ihr kichernd über Liebe, Besitz und Sex, eine unglücklich Verliebte entblößt leise weinend ihren geschorenen Kopf unter dem Tschador. Ihr gilt der Schlüsselsatz dieses Films: "Laß deinen Kopf atmen!"

Kiarostami hat seinen Protagonistinnen einen Raum der Rede- und Denkfreiheit erobert. Es sind nur wenige Quadratmeter, umgeben von Blech, und er verteidigt sie mit der radikalen Reduktion aller filmischen Mittel: Zwei Kameras am Rückspiegel, eine für die linke, die andere für die rechte Seite, eine einfache Schnittpartitur, die beide Perspektiven vor dem Klangteppich des rauschenden Verkehrs kombiniert. Wieviel Hellsicht in der Position des eigentlich blinden Passagiers möglich ist, zeigen Seitenblicke auf die seltsam ausgesperrte Männerwelt. Im Auto wird sie besprochen, durch die Fenster ist sie zu sehen, hupend auf der Überholspur oder um Parkplätze kämpfend. Nur Amin, der erst noch Mann werden will, überschreitet dann und wann die Grenze - wenn auch widerwillig.

Kiarostamis Versuch, auf engstem Raum und ohne wuchtige Bilder ein unendlich widersprüchliches Alltags-Universum zu etablieren, ist eine konsequent ausgeführte, wunderbare Zumutung. Einmal, weil er sich in der Filmzeit so unbequem breit macht, vor allem aber, weil er ganz unverschämt und andauernd den Kopf besetzt hält.

Originaltitel: TEN

F/Iran 2002, 94 min
Verleih: Alamode

Genre: Drama, Experimentalfilm

Darsteller: Mania Akbari, Amin Maher

Stab:
Regie: Abbas Kiarostami
Drehbuch: Abbas Kiarostami
Kamera: Abbas Kiarostami

Kinostart: 07.08.03

[ Sylvia Görke ]