Einst genügten ein Mann, ein Hund und/oder eine verdrehte Romanze, um mit einem simplen Boulevardstück die Straßen leerzufegen. Bis Ende der 20er Jahre kam das Kintopp dabei sogar ohne Ton aus. Daß dies aber nichts mit cineastischer Askese zu tun haben muß, bestätigt Michel Hazanavicius’ zeitgemäß unzeitgemäßes Husarenstück gegen die Lieb- und Freudlosigkeit im künstlerisch ambitionierten Film.
In Schwarzweiß und – mit wenigen markanten Ausnahmen – stumm wie ein Fisch führt es nach Hollywoodland, als die Bilder nach dem Laufen nun endlich auch das Sprechen lernen sollten. George Valentin, der fiktive Stern am Firmament eines dem Untergang geweihten Starsystems von stummen, schnurrbärtchentragenden Himmelskörpern, steht plötzlich einem Publikum gegenüber, das sich bis eben noch mit Tönen aus dem Orchestergraben zufriedengab. Erst als die Studiobosse kühler werden, erst als ein Girl namens Peppy Miller ihn aus der dritten Reihe überholt und sein Smoking beim Pfandleiher Staub ansetzt, begreift Valentin, was geschehen ist: Seine Kinoepoche hat ein Ende gefunden.
Unter Aufbietung aller filmtechnischen Finessen des 21. Jahrhunderts fällt hier ein alter samtener Vorhang, der schon vor annähernd 100 Jahren die Karten für das Medium der Neuzeit aufwirbelte – zum Sieg einer uniformen Unterhaltungsfilmästhetik, die ihr Heil vor allem in der Beredsamkeit suchte. Hazanavicius wählt dafür die Form des überbordenden Melodrams, wirft Falten mit dem Gesten- und Bilderschatz seiner Regie-Urahnen, mit der stillen Leidenschaft und respektvollen Liebe eines stillen Verehrers sowie dem Understatement eines Milliardärs, der sich trotz des praktischen Kleinwagens von seinem historischen Cadillac niemals trennen würde. Sein Pastiche, sein schmunzelnd-wehmütiges Schau- und Wunderstück über die aufgerissenen Augen des frühen Films verbeugt sich vor der gefühlsdirekten Naivität der ersten Kinoerzählungen, ohne ihnen mit dem Spott des Spätgeborenen ihre Wirkmacht abzuerkennen.
Selten waren Form und Inhalt einander so herzlich, innig und sinnig verbunden. Und noch seltener hat man einen Dujardin so genießen können: ein Hauptdarsteller als Quersumme aus Rudolph Valentino, Douglas Fairbanks und Errol Flynn, die einem in nostalgischen Stunden wie Gold die Kehle hinunterläuft, während das Filmvorführgerät heimelig flimmert. Oder die Pixel rauschen. Wie auch immer: Laßt es weiter Filmpreise regnen!
Originaltitel: THE ARTIST
F 2011, 100 min
FSK 6
Verleih: Delphi
Genre: Stummfilm, Poesie, Drama
Darsteller: Jean Dujardin, Bérénice Bejo, John Goodman, James Cromwell
Regie: Michel Hazanavicius
Kinostart: 26.01.12
[ Sylvia Görke ]