Ganz ehrlich: Es wäre Verrat! Verrat an der klugen, zwischen den Jahren und in den Stimmungen raffiniert wechselnden Erzählstruktur von Felix van Groeningens Ausnahmefilm. Denn: Wo setzt man an? Was darf geschrieben sein, wie lange bleibt der Zuschauer auf sich allein gestellt, genauso, wie es die Kritiker waren, die auf der Berlinale diesen Film kennen- und schlagartig lieben lernten? Die mit Elise und Didier bangten, hofften, litten, sich freuten und weinten. Und doch: Ganz ohne geht es nicht. Die Liebes-, Lebens- und Leidensgeschichte von Elise und Didier ist derart komplex, ein ewiges Auf und Nieder, eine Odyssee durch ein Leben, das eben nicht immer gerecht, geschweige denn großzügig oder bisweilen überhaupt lebenswürdig ist.
Sie, die Tätowiererin, und er, der Bluegrass-Sänger. Sie leben zusammen, sie singen in einer Band (ganz fabelhafte, irgendwo zwischen Johnny Cash, Nick Cave und Robert Francis anzusiedelnde Stücke), sie bekommen ein Kind und bauen sich ein Haus aus. Wie sie sich kennengelernt haben, mit welch’ schönen Sätzen und tollen Blicken, erfahren wir etwas später. Was ein guter Kniff ist, weil er für einen milderen Moment des Films sorgt, nachdem der Zuschauer bereits durch ein emotionales Wechselbad ging.
Gleich zu Beginn eine Kampfansage: „Morgen schießen wir den Krebs tot!“ Das amüsiert die kleine Maybelle, ihre Eltern sind voller Hoffnung, doch wie trügerisch diese ist, offenbart sich allein schon im ärztlichen Vokabular: Überdruckkammer, Zerstörung eigener Zellstruktur, Stammzellentransplantation ... Man möchte sich die Haare raufen und laut rufen: „Wie kann ein so kleiner, freundlicher Mensch an so etwas Übergroßem, Grauenvollem leiden?“ Aber wie gesagt: Das Leben ist nicht gerecht. Die Krankheit Maybelles wird zur Belastung von Elise und Didier, wobei das untertrieben ist: Das Schicksal der Kleinen bestimmt über alles.
Was einmal gut war, ist vorbei. Ab sofort werden die Lieder der beiden andere sein, das Banjo klingt müder und noch trauriger als zuvor. Wie soll es auch anders sein? Wenn zwei sich etwas schaffen, wenn ein dritter Mensch dazukommt, wenn man gemeinsam das tut, wozu man sich bestimmt fühlt, wenn man also ganz plötzlich so etwas wie eine Ahnung davon bekommt, wie sich Glück definieren lassen könnte, und wenn dann genauso plötzlich der Zufall Gott spielt, einen bösartigen Gott, der Strafe walten läßt, wo die schützende Hand sein sollte, dann wird flugs und brutal aus einem zärtlichen Film ein wütender Film. Es wird dauern, und es wird anders sein, wenn Elise und Didier wieder auf der Bühne stehen. Und es muß anders klingen, weil sie und ihre Band diese wirklich starken, mitreißenden Countryfolksongs nicht einfach spielen, sie leben sie. Deswegen belauern sie sich auch jetzt auf der Bühne, mal hoffnungsvoll, mal müde erinnernd, manchmal einfach nur schwarztraurig. Das ist Teil einer großen Zerfleischung, eines giftsprühenden Verteidigungsfeldzuges mit Schuldvorwürfen und Ausrastern.
THE BROKEN CIRCLE wartet in seiner anrührenden Liebesgeschichte durchaus mit manchem an den herzbrecherischen irischen Film ONCE erinnernden Moment auf, doch letztendlich bleibt die Farbgebung eine andere, und die führt teils in Richtung Lars von Triers BREAKING THE WAVES. Immer dann nämlich, wenn der Film ganz zart in Richtung Neuanfang, Festigung und Trauerbewältigung blickt, weiß man bald, daß nur ein kleines Stück hinter der Ecke dann doch nur wieder der bösartige, eiertretende Gott lauert. Das ganz große Kunststück von van Groeningen und seinem Autor und Hauptdarsteller Johan Heldenbergh ist aber zu zeigen, daß trotz der brachialen Gewalt, die hier in das Leben zweier beeindruckender Menschen Einzug hält, trotz daß so vieles kaputt geht, es noch immer Menschen, Momente und Begegnungen gibt, die an das Leben – irgendwann, irgendwie und sicher ganz anders als zuvor – glauben lassen.
Hier sind es die Freunde Didiers und die Musik, die auch ganz zum Schluß eben so konterkarierend eingebunden ist, daß aus einem wütenden Film gottlob kein ganz hoffnungsloser wird. Einer der kraftvollsten des modernen Kinos ist er sowieso.
Originaltitel: THE BROKEN CIRCLE BREAKDOWN
Belgien/NL 2012, 112 min
FSK 12
Verleih: Pandora
Genre: Drama, Schicksal, Musik
Darsteller: Johan Heldenbergh, Veerle Baetens
Regie: Felix van Groeningen
Kinostart: 25.04.13
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.