Und jene eigentlich Francisca heißende Franny ist ein kleines, viel zu ernstes Mädchen, das inklusive Eltern abgeschieden wohnt, umgeben von Natur. Gleichaltrige Kameraden? Fehlanzeige. Fast scheint es wie ein böses Omen, als die Mama davor warnt, welche seltsamen Effekte Einsamkeit auf den Geist haben mag. Doch nicht sie allein kann juvenile Hirne zu im Verborgenen tickenden Zeitbomben formen: Eben noch durfte das stille Mädel Kühe streicheln, schon liegt ein abgetrennter Rinderkopf auf dem Tisch. Zweck des Ganzen: Franciscas Mutter war einst Augenchirurgin und will geradezu obsessiv Wissen und Berufsstand an die anatomisch (zwangsweise?) tatsächlich wissensdurstige Tochter weiterleiten. Ergo wird geschnitten, gepult, gespült, bis eine fein säuberlich extrahierte Linse in kindlicher Hand landet und interessierte Begutachtung erfährt. Ganz normal abnormale Familienidylle also, bis plötzlich ein Fremder vor der Tür steht und sich „unverschämt“ verhält.
Worauf bestialische Konsequenzen folgen, ohne die eingespielte Routine großartig zu stören – Francisca wischt halt das Blut weg, hilft Vati bei Transportarbeiten und entfaltet Krankenschwesterqualitäten. Aber wer in Frannys widernatürlich sorgende Hände gerät, findet sich schnell angekettet mit einer Binde über den Augen wieder, auf der zwei rote Flecken prangen. Wobei das lediglich eine biologisch logische Vermutung ausdrückt, da die Kamera stilvoll schwarz-weiße Aufnahmen zaubert, Licht und Kontraste dort stets präzise arrangierte Details hervorkitzeln, wo farbiges Leuchten die visuelle Vehemenz gestört und von grausamer Schönheit abgelenkt hätte. So verstört ein Bilderrausch, welcher geschundene Körper und verstümmelte Gesichter geradezu quälend porträtiert, andernorts eine nackte Leiche traurig zu liebkosen scheint, zerreißende Emotionen wie Verlust oder die eingangs bereits angesprochene, nun überwältigende Einsamkeit adäquat optisch unterfüttert, dabei nie dem brutalen Voyeuristischen verfällt, kein einziges Mal auf das in modernen Genre-Produktionen minutiös dargebotene Foltern, Morden, Fleddern setzt.
Wir entdecken psychische Unwuchten, dann deren physische Auswirkungen und bauen den Rest im Kopf zusammen. Höchstmöglicher Horror inbegriffen. Zwischendrin ein Zeitsprung. Francisca, zur jungen Frau erblüht, sucht menschliche Nähe, zusätzlich zum einzigen so empfundenen Freund. Bei dieser Vorgeschichte eine fatale Idee. Außerdem die ultimative Herausforderung, wertende Opfer-Täter-Schemata über Bord zu werfen, Franciscas Motivation zu verstehen, ihrer verwirrten, verdrehten, verletzten Basis zu begegnen. Letztlich zu akzeptieren, daß sie einen mehrheitlich fremdbeschworenen Alptraum durchlebt. Erwachen ausgeschlossen, Erlösung ebenso.
Es gäbe unzählige Worte, sich vorliegendem Stirn-, Nacken- und Magenschlag von Filmmonstrum anzunähern, darunter fallen je nach individueller Sicht „Grenzerfahrung“, „total krank“ oder „mutiges Meisterwerk.“ Stimmt alles wohl irgendwie, dient aber bloß der Umschreibung, trifft nicht den entscheidenden wunden Punkt, das Gefühlschaos während des Zusehens. Eigenes Durchstehen ist gefragt – und sichert unerbittliches Einfräsen in die Erinnerung langfristiger Art: Francisca wird sich festkrallen, uns ein ganzes Stück des weiteren Wegs begleiten …
Originaltitel: THE EYES OF MY MOTHER
USA 2016, 76 min
FSK 16
Verleih: Drop-Out Cinema
Genre: Thriller, Psycho, Drama
Darsteller: Kika Magalhães, Will Brill, Flora Diaz
Stab:
Regie: Nicolas Pesce
Drehbuch: Nicolas Pesce
Kinostart: 02.02.17
[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...