Originaltitel: THE FATHER
GB 2020, 98 min
FSK 6
Verleih: Tobis
Genre: Drama
Darsteller: Anthony Hopkins, Olivia Colman, Olivia Williams, Imogen Poots, Rufus Sewell
Regie: Florian Zeller
Kinostart: 26.08.21
Ein langes Leben, 83 Jahre, auf einzelne Momente heruntergebrochen. Vielleicht zwei Drittel davon hat man selbst mit diesem Menschen verbracht, so nah, wie man ihm nah sein konnte und wollte, so fern, wo es Distanz brauchte und nötig war. Und jetzt? Verliert dieser alte Baum all seine Blätter. In einer besonderen, am Schluß plazierten Szene von THE FATHER wird es Anthony, der Vater, schaffen, seine heftigsten Gefühle in einem Resümee zu bündeln. Das mit den Blättern kommt als Bild unter Tränen aus seinem Mund.
Ein britischer Film, 97 Minuten, auf einzelne Momente heruntergebrochen. Ein Drama, das sich mit Empathie und Kraft einem Vater und seiner Tochter widmet und damit einem Dilemma gegenwärtigen Alltags, das, wie man mit halb beschwingtem Unterton so gern verkündet, keinem auf der Stirn geschrieben steht. Wenn es noch immer Leben gibt, bevor man stirbt, auch wenn manche sagen, dies sei kein Leben mehr. Wenn man denjenigen, den man kennt, nicht mehr erkennt. Wenn guter Rat nicht nur teuer, sondern unbezahlbar ist.
Anthony war einst Ingenieur und sicher einer mit Erfolg. Es ist keine Wohnung, in der er lebt, es ist ein kleines Reich. Mit Kunst an den Wänden, Purcell im Kopfhörer, edlem Holz als Gestühl. Anthony, der Feingeist! Steptänzer aber war er nie. Ein grandioser Auftritt vor Laura – vielleicht die neue Pflegerin, vielleicht auch nicht – soll es weismachen, kombiniert mit einem herzhaft in die Kehle gepeitschten Whisky. Es ist ein Moment der vage befreiten Art.
Doch Tochter Anne hat schon andere mit Anthony erlebt, im Ausmaß nur Bruchteile einer Minute getrennt von Angst, Frust, Liebe, Wut, Zuneigung, Ohnmacht. Anne ist stets wiedergekommen, obwohl sie jetzt, da THE FATHER nach wenigen Minuten sein Tableau offenbart hat, weggehen will. Nach Paris. „Paris?“, prustet Vater los. „Sie sprechen kein Englisch in Paris!“ Dieser Moment gehört dem Sarkasmus.
Florian Zeller ist Spielfilmdebütant. Der 42jährige französische Autor und Dramatiker hat mit THE FATHER sein eigenes Theaterstück für die Leinwand adaptiert. Das muß nicht gutgehen. Es ist auch nicht zwingend. Hier aber dringt das tiefe Wissen um den Stoff aus jeder Pore. Stärke, die nicht zur Behauptung wird. Visuell brillant – keine Frage. Als Kammerspiel in Räumen inszeniert – neu ist das nicht. Hervorragendes Interieur – es mußte sein. Komponist Ludovico Einaudi in Schach gehalten – das war nötig. Selbst das phänomenale Präzisionsspiel von Anthony „And The Oscar 2021 Goes To“ Hopkins und Olivia Colman, wo Worte sind und Worte fehlen, preist man mit der Arroganz eines cineastischen Vielsehers schon ein.
Doch da ist immer noch etwas anderes, das diesem Film eine drängende Wirkung verleiht und die frühe Ahnung nährt, man würde THE FATHER nicht nur anschauen können, sondern von ihm Besitz ergreifen müssen. Es ist die Konsequenz, mit der Zeller aus des Vaters Perspektive erzählt, ohne freilich die Tochter in ihrer Wahrhaftigkeit zu beschneiden. Mit Momentaufnahmen. Mit Verwirrungen und Aggressionen, Rätseln ohne Lösung. Mit lockeren Spielchen und quälendem Schmerz, Anthonys neu wiederkehrenden Fragen an sich selbst: Was geschieht mit mir und hier? Mit meiner und der anderen Anne? Wer ist dieser Mann heute in meiner Wohnung und der andere gestern? Es ist doch meine Wohnung, oder?
Nein, THE FATHER ist nicht der nächste Kinofilm über Demenz und die Folgen. Es ist ein Zugriff.
[ Andreas Körner ]