Auch wenn sie physiognomisch schwer erkennbar bleibt, Nicole Kidman spielt Virginia Woolf. Und mehr: Die Kidman ist auf der Leinwand die Woolf. Eine Frau, die geradezu wie ein Musterexempel für weibliche Klugheit, für den personifizierten Selbstgang steht, eine Frau, die in der Welt der Literatur und im Verständnis aller zerrissenen Weiblichkeit Paradestellung einnahm und dies noch immer tut. Eine Frau, die als Mädchen bereits Abscheuliches in der eigenen Familie erleben mußte, eine Frau, die unter dem Joch unendlicher physischer und seelischer Pein zu Geistestaten im Stande war, eine Frau, die noch heute eine geradezu devot erlegene Leser(innen)schar begeistert, aber eben auch ein fragiles Wesen, das unter der eigenen und der gesellschaftlichen Lüge litt.
Von dieser beeindruckenden Frau und ihrer Wirkung auf Laura Brown, eine depressive und bizarr schöne Ehegattin in Los Angeles zu Beginn der 50er Jahre, erzählt dieser geradezu meisterliche Film. Laura zieht der bürgerliche Mief im rosafarbenen Reihenhausglücksmorast Amerikas in tiefe Depression, ihr Verhältnis zu ihrem Mann Dan ist nur ein schmerzlich gewähltes, und zwischen ihr und ihrem kleinen Jungen Richie, der mit traurigem und früherwachsenem Blick das Leiden der Mutter minutiös erlebt und mitfühlt, liegt eine tränentreibende Frostigkeit, die allerdings aus nur sehr dünnem Eise besteht. Zum Glück. Laura flieht über die Lektüre von Woolfs "Mrs. Dalloway" aus der Wirklichkeit und schließlich in eine selbstbestimmte Welt. Wenn auch in eine Opfer fordernde.
Da ist Clarissa Vaughan ein scheinbar anderer Typ Frau, ein modernerer ohnehin, im New York zu Beginn des neuen Jahrtausends. Die Verlegerin lebt offen lesbisch mit ihrer Freundin Sally zusammen, wird von ihrem immer noch guten Freund Richard (der ihr damals von seinem Liebhaber Louis abspenstig gemacht wurde) liebevoll Mrs. Dalloway genannt - nicht nur wegen des identischen Vornamens - und ist nun schwer damit beschäftigt, eine Party vorzubereiten, die anläßlich der Preisverleihung für Richards schriftstellerisches Werk gegeben werden soll. Doch Richard ist krank. Schwerkrank. Bereits äußerlich von AIDS gezeichnet, verrät er Clarissa, daß er nicht mehr will. Daß er gar nichts mehr will. Daß er nur noch ihretwegen atme ...
Dieser Parcours durch die Jahrzehnte, dieser Ausflug in die Tiefe aller leidvollen und letztlich lebensnormalen Emotionen gelingt Stephen Daldry zum großen Meisterwerk. Mit berauschender Versiertheit erzählt er von Ängsten, von unwiderruflich verpaßten Chancen, von Feigheiten, vom Verschweigen, von der Stärke zurück stecken zu können, von der Furcht, auf eigenen Füßen zu treten.
Ein süchtig machendes Schauspielerinnen-Ensemble, ein wahrhaft kluger Entwurf über die lächerliche Bedeutungslosigkeit des Einzelnen und zugleich ein frenetisch verzweifeltes Loblied auf das Spezielle, das Individuum, zieht den Zuschauer in den Bann. Daldry findet exzellente Bilder, berauschende Sätze und gar verblüffend komische Töne. Diesem heftigst aufwühlenden, diesem atemstockenden Opiat wird man sich nicht entziehen wollen. Es wäre ohnehin zwecklos.
Originaltitel: THE HOURS
USA/GB 2003, 115 min
Verleih: Highlight
Genre: Drama, Literaturverfilmung, Schwul-Lesbisch
Darsteller: Nicole Kidman, Meryl Streep, Julianne Moore
Regie: Stephen Daldry
Kinostart: 27.03.03
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.