Der Sheriff wartet schon, dank einer diffusen Ahnung sitzt der Kerl am Strand einer Insel (sardisches Karstland von sprödem Reiz), wohl wissend, daß hier etwas angespült wird. Und siehe da: Tatsächlich liegt dann bald dieses fremde Wesen in den Wellen. Mit wachsblonden Haaren, Kopfhörern und Adidas-Anzug. Strandgut aus den Tiefen des Meeres oder der Galaxie. Was das letztlich genau ist, Mensch oder Alien, Heiland oder Findelkind – wer mag das wissen? Kaspar Hauser ist zumindest der Schriftzug, der da, von wem auch immer, quer über den Brustkorb geschrieben wurde. Und nur dieser Name behauptet hier ein Geschlecht, denn dieses Wesen ist ein Superlativ an Androgynität.
Davide Manulis Bespiegelung des Kaspar-Hauser-Mythos’ ist eine Low-Budget-Exaltiertheit, bei der es sich trefflich darüber diskutieren ließe, ob der Film auf sperrige Art reizvoll oder in seinem gespreizten Kunstwillen schlicht öde ist. Also, was ist das, wenn man in einer ununterbrochenen Folge fast ausschließlich statischer Kameraeinstellungen das begrenzte Personal bei Dialogen belauscht, die klingen, als hätte ein ambitionierter Pennäler zu viel Beckett gelesen? Oder das Kaspar hier bald als DJ zuckend (toller Zwischentitel: „Sheriff bringt Kaspar bei, wie man DJ wird“) leere Strände beschallt? Oder Vincent Gallo, ganz seinem Ego gemäß, nicht nur besagten Sheriff spielt, sondern auch dessen Gegenspieler, den Pusher? Und reden wir nicht vom UFO, das final hier Schatten wirft.
Was für ein Mist – könnte man sagen und hätte nicht wirklich Unrecht. Und doch ist da zugleich auch einiges, das durchaus angetan ist zu fesseln. Etwa die Tänzerin Silvia Calderoni, die den Kaspar Hauser gibt und tatsächlich als ein Wesen ohne jegliche Zugehörigkeit, Herkunft, Identität aufscheint. Keinerlei Zuweisungen ermöglicht. Nicht psychologisch, nicht physiologisch, nicht sexuell. Was sich insgesamt noch mal verstärkt durch den Score des französischen Techno-Musikers Vitalic. Die radikale Künstlichkeit des Sounds, dazu die Leere der Landschaft, die surrealen Szenerien, die Freak-Attitüde des Ganzen – es ist der Eindruck einer latenten Flüchtigkeit, des Nichtgreifbaren, die erweckt wird. Etwas also, daß letztlich auch die „Handlung“ dieses Filmes definiert, der somit selbst wie eine Variable seines Titelhelden wirkt: Denn die Frage, wer oder was dieser Kaspar Hauser ist, läßt sich eben auch bezüglich Manulis Film stellen. Eine eindeutige Antwort gibt es weder im einen noch im anderen Fall.
Originaltitel: LA LEGGENDA DI KASPAR HAUSER
I 2012, 95 min
Verleih: Filmperlen
Genre: Experimentalfilm, Literaturverfilmung
Darsteller: Vincente Gallo, Silvia Calderoni
Regie: Davide Manuli
Kinostart: 01.08.13
[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.