Henry hört das Telefon nicht, weil er in der Musik abgetaucht ist, seine Frau nimmt den Hörer ab, und man weiß es, man sieht es – Gabriel, ihrem Sohn, ist es etwas zugestoßen. Der Mittdreißiger liegt im Krankenhaus, Hirntumor ist die Diagnose, wie schlimm tatsächlich, wird erst eine Operation in Erfahrung bringen, nur so viel ist sicher: Ein Teil des Hirns, der für kognitive Funktionen zuständig ist, ist zerstört.
Nun blendet beim Nacherzählen dieses Auftakts mindestens die Hälfte der potentiellen Kinogänger ab, was falsch und schade wäre, denn es geht in diesem großartigen, aufwühlenden und trotz der kunstvoll verwaschenen Bilder zeitlosen Film nicht um Krankheit. Es geht um die Fragilität von Familie, um Entfremdung, um Verwerfungen, um falschen väterlichen Ehrgeiz, und – weil es eine gut erzählte Geschichte ist – um neue Chancen. Gabriel teilte schon als Kind die Leidenschaft seines Vaters für die Musik, und durch sie und die geduldige Arbeit einer Musiktherapeutin findet auch der erwachsene Gabriel wieder Zugang zu einer für ihn verlorengegangenen Welt – seine Vergangenheit. In dieser kam es, als der Junge erwachsener wurde, als Grateful Dead den guten alten Bing Crosby in die Ecke schoben, zum Bruch mit dem Vater. Zwanzig Jahre war Gabriel verschollen ...
Dies ist die komplett kitschfrei und gerade deshalb so glaubwürdig und anrührend erzählte Geschichte eines großen Zerwürfnisses zwischen Vater und Sohn, eines, das durch ein Unglück die Chance zur Aufarbeitung bekommt. Aber eben nicht dirigiert vom Pilcher-Taktstock, das Pathospiano bleibt schön in der Ecke, Jim Kohlberg erzählt durch seine Figuren: Der Junge, der als erwachsener Mann wieder hilfsbedürftig und noch immer rebellisch ist, der Vater, der sich zu öffnen versucht, und die Mutter, die – wie so oft – den Stein ins Rollen bringt, die Vergangenes nicht wie Henry verdrängt, sich klarer erinnert und erinnern will, als es ihr Mann tut. Sicher auch, weil sie sich schuldig fühlt, den Bruch nicht verhindert zu haben, aber auch, weil Mütter in solchen Dingen vom Naturell her pragmatischer sind.
Natürlich gibt es die Momente, bei denen einfach die Tränen fließen – die haben viel mit der von den beiden Männern gelebten Musik zu tun. Es ist einfach schön, wenn die Kerle über den Sinn von Liedtexten labern, es ist einfach schön traurig, wenn der „Summer Song“ von The Tulips im Radio läuft, oder wenn Vater und Sohn kurz vor Schluß gemeinsam auf ein spätes Konzert von Grateful Dead gehen. So nahe waren sie sich seit mehr als zwei Dekaden nicht, und weil das Leben selten gerecht ist, werden sie es auch nie wieder sein. Aber sie haben wieder zueinander gefunden.
Originaltitel: THE MUSIC NEVER STOPPED
USA 2012, 105 min
FSK 0
Verleih: Senator
Genre: Drama, Musik
Darsteller: Lou Taylor Pucci, J.K. Simmons, Julia Ormond
Regie: Jim Kohlberg
Kinostart: 29.03.12
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.