Originaltitel: PLEMYA
Ukraine 2014, 132 min
FSK 16
Verleih: REM
Genre: Action, Thriller
Darsteller: Grigoriy Fesenko, Yana Novikova, Rosa Babiy, Alexander Dsiadevich
Regie: Myroslav Slaboshpytskiy
Kinostart: 15.10.15
Wieder erheben sich Film und Kino, um etwas zu wagen, und das keineswegs im Sinne vom Fall vermeintlich letzter Bastionen. Mit THE TRIBE beginnt der Verleih Rapid Eye Movies eine Reihe, die sich „Freie Radikale“ nennt. Sie greift weiter als von Vor- bis Abspann, denn jeder Streifen wird von einem bildenden Künstler begleitet. Als Rahmen und Verschmelzung. Hier schuf Maler Franz Baumgartner fürs Plakatmotiv ein Ölbild, das als signierter Druck in limitierter Auflage erhältlich ist und das Motto untersetzt: Berührung, Irritation, Öffnung, Befreiung, Entstehung von Neuem.
Ob schon Myroslav Slaboshpytskiys THE TRIBE allein diesem Anspruch gerecht wird? Unbedingt! Denn der ukrainische Regisseur verläßt sich nicht darauf, mit einer nächsten (hoch-)stilisierten Hommage an die Stummfilmära Aufmerksamkeit zu erheischen. Vielmehr drehte er sein Werk komplett in Gebärdensprache, zudem mit gehörlosen Laien im realsozialisierten Umfeld eines Internats. Dieser Verzicht auf Interaktion mit der sprechenden und hörenden Welt erschafft für den Zuschauer eine nachgerade unbarmherzige Konzentration. Denn auch Untertitel und Musik fehlen, also Dechiffrierung und Illustration. Das Harte der Handlung wird härter, das Dunkel dunkler, ein einziger Lichtstrahl wirkt wie geworfener Schein.
Die Zigarette davor ist eine Täuschung. Sergej, der Neue, ist nicht willkommen. Er ist einfach nur da. Seine Initiation läuft über Schläge und Mutproben, Schikane und das Vermitteln von Hierarchien. Doch Sergej ist clever. Und stark. Das nötigt den anderen Respekt ab. Bei den Raubzügen ist er vorn dabei, beim Saufen auf dem Spielplatz nicht minder. Schwierig wird es erst, als er im Mädchen Anna mehr sieht als eine blasse Mitschülerin, die sich prostituiert. Liebe ist nicht vorgesehen im „Stamm.“ Es muß und es wird eskalieren!
Die stilistischen Mittel dieses kompromißlosen Dramas sind in ihrer Wirkung so beeindruckend wie aufwühlend: entsättigte Farben, Szenen der Bewegung inszeniert wie ein schmerzvoller Tanz der Körper, Wechsel von distanzierten, so langen wie starren Kameraeinstellungen und extremen Fahrten mit rasanten Schwenks, das Fehlen von Nahaufnahmen.
THE TRIBE läßt einen beschreibenden Satz wie „Man sollte sich darauf einlassen“ im gleichen Maße verkümmern wie das lapidare „interessant“ als Antwort auf die Frage, wie das Essen denn schmecke.
[ Andreas Körner ]