Ein Kind mit dem Vater im Auto: blondes, kurzes, struppeliges Haar, ein fein geschnittenes Gesicht, eher sehnig denn weich der Körper. Der Filmtitel läßt wissen, daß es ein Mädchen ist, das auf dem Schoß des Vaters Lenken darf. Es ist Laure, zehn Jahre alt. Regisseurin Celine Sciamma, die in ihrem Debüt WATER LILIES die erwachende Sexualität junger Mädchen spielerisch und ohne „erwachsene“ Tabus zeigte, setzt sich hier mit dem Identitätsproblem eines Kindes auseinander. Laure will lieber ein Junge sein und nutzt die Chance eines Umzuges, um sich in einer fremden Umgebung als solcher auszuprobieren. Für ihre Hinterhofclique gibt sie sich als Michael aus. Über einen langen Sommer dürfen wir dabei zusehen, wie Laures innerstes Bedürfnis spielerisch mit ihrem Körper, ihrer Erscheinung zusammenwächst. Ihr Gang verändert sich, sie lebt ihre Energie auf dem Fußballfeld ungezügelt aus, spuckt, rülpst, prügelt sich. Und ein Mädchen, Lisa, verliebt sich in sie/ihn. Auch weil sie spürt, daß Michael anders ist als die anderen Jungen.
Die Entdeckung der „Lüge“ liegt die ganze Zeit in der Luft, alles deutet auf ein Drama hin. Gut, daß Sciamma dies nicht einlöst. Trotzdem oder gerade deshalb haftet den Rollen von Laures Eltern etwas künstlich Konstruiertes an, gerade wenn es zum „Turning Point“ der Geschichte kommt. Man vermißt das eigentliche Austragen des Konfliktes, fast möchte man die Beiden schütteln ...
Die nur spärlichen Andeutungen des Drehbuchs stehen im Kontrast zu der von Sciamma gezeichneten, offenen Familienatmosphäre. Der Vater steht demnach wohl auf Laures „Jungen-Seite“, bringt er ihr doch Pokerspielen bei und Autofahren. Die Mutter will nicht sehen, daß Laure eigentlich kein Mädchen-Mädchen ist und freut sich über Schminke im Gesicht ihrer Tochter. Laures kleine Schwester Jeanne ist die Einzige, die Michael „entdeckt“. Sie freut sich über die ritterlichen Fähigkeiten ihrer großen Schwester. In die intimen Momente, an denen uns die Filmemacherin teilhaben läßt, alle sehr stimmungsvoll und wahrhaft schön inszeniert, mischt sich das Gefühl, daß die vorgeführte Leichtigkeit etwas Aufgesetztes hat. Zoé Héran, die Laure und Michael gleichermaßen großartig verkörpert, zu begleiten, löst wiederum Euphorie aus. Als ein Schwanken zwischen langem vergeblichen Warten auf etwas und wahrhaft empfundenen Glücksmomenten – so könnte man dieses Filmerlebnis beschreiben.
Originaltitel: TOMBOY
F 2011, 82 min
FSK 6
Verleih: Alamode
Genre: Erwachsenwerden, Poesie
Darsteller: Zoé Héran, Malonn Lévana, Jeanne Disson, Mathieu Demy
Regie: Céline Sciamma
Kinostart: 03.05.12
[ Susanne Schulz ]