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Tortuga

Vom Überlebenskampf einer gepanzerten Heldin

Als Kind wollte man alles können: fliegen wie ein Vogel, rennen wie ein Gepard, schwimmen wie ein Fisch. Das würde man sich heute zweimal überlegen, denn – der Eindruck entsteht bei der Vielzahl der Naturfilme, die seit einigen Jahren in die Kinos strömen – man müßte stets befürchten, mit gehörigem Tempo in ein Kamerateam zu krachen. Im Ernst: Es ist schon davon auszugehen, daß es nicht wenige naturwissenschaftlich uninteressierte, dafür mit gespitztem Bleistift ausgestattete Buchhalter unter den Filmemachern gibt, die in ihren Unruheträumen immer wieder nachdenken, welches Viech es noch nicht auf die Leinwand geschafft hat. Und da im Darwinschen Tummelreich nicht nur Füchse, Zugvögel, Pinguine und nun auch depperte Meerschweinchen als Filmhelden herhalten müssen, kommt man zwangsläufig auf gepanzerte Kreaturen, die – das ist einzuräumen – auch über die Babyphase hinweg etwas Putziges haben: die Schildkröten.

So viel Versöhnliches vorab: Es ist eine schöne und durchaus erzählenswerte Geschichte geworden, über den langen, schwierigen Weg des (Über-) Lebens, des Erwachsenwerdens einer sogenannten Unechten Karettschildkröte. Der Film strafft seine Mär trotz des langen Zeitraums vom Schlüpfen bis zum Paarungsalter in eine vernünftige Länge – so besticht die Reise durch wirklich verblüffende Bilder und nervt nicht durch Redundanz. Es ist eine Odyssee quer durch die Ozeane, von Florida nach Neufundland, von den Kanaren nach Afrika, vom Schwarzen Kontinent in die Karibik.

Dabei lockt der Einstieg noch in die falsche Richtung – Märchentantenstimme auf blauem Grund vor betulicher Zahnarztpraxismusik. Dann aber kommt Fahrt auf: Die Erzählstimme arbeitet nun mit all ihren charmanten Nuancen, das kann Hannelore Elsner einfach, die Musik Henning Lohners weiß dramaturgisch perfekt zu illustrieren, und endlich sehen wir die Heldin des Films – ein Meeresschildkrötenbaby gräbt sich eifrig aus dem Sand frei. Wobei Freiheit sofort relativ wird – vogelfrei trifft es eher, denn mit dem ersten Licht der Welt warten Gefahren allerorts: aus der Luft das gierige Pelikanfedervieh, am Strand bösartig dreinblickende Riesenkrabben. Doch unsere kleine Schildkröte schafft es ins Meer, gerade so, mit zu Herzen gehenden tapsigen Bewegungen. Und mit dem Ozean kommen dann die atemberaubenden Fotografien – von Blauhaien und Buckelwalen, von Mondfischen und Seepferdchen. Außerdem kreuzen allerhand fluoreszierende Geschöpfe den Weg des Reptils. Doch überall lauern Gefahren: launische Jahreszeiten, gefährliche Strudel, hungriges Meeresgetier, bösartige Quallen und immer wieder der Mensch. Viele Tiere verenden durch Plastikmüll, Ölteppiche, Riesentanker, die die Ruheplätze unter den Tangteppichen zerstören. Manchmal geraten den Filmemachern die Jahreszeiten durcheinander, bisweilen verirrt sich der Autor zu sehr ins Prosaische, wenn etwas hobbyliterarisch immer wieder die Rede von Nomaden und Pilgerwegen ist.

Aber klug beraten war man, daß man eine gute halbe Stunde aufwandte für die Kindheit des Tiers – nicht nur, um für die kleinen Zuschauer den Niedlichkeitsbonus einzulösen, vielmehr auch zur Identifikationsstiftung mit dem brutalen Überlebenskampf der kleinen Kreatur. Letztendlich ist TORTUGA eine kurzweilige Geschichte vom Glück – dem des Durchkommens. Einige Bilder graben sich dabei tief ins Gedächtnis, etwa das vom ­Bettenbau in einer Seetangansammlung oder die – fast psychedelischen – Aufnahmen der erwachsenen Schildkröte: allein, still, in tiefblauer Unendlichkeit.

Originaltitel: TURTLE: THE INCREDIBLE JOURNEY

GB/D/Österreich 2009, 81 min
FSK 0
Verleih: Polyband

Genre: Dokumentation, Natur

Stab:
Regie: Nick Stringer
Stimmen: Hannelore Elsner

Kinostart: 01.10.09

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.