Noch keine Bewertung

Tour de France

Depardieu, der fabelhafte Reiseleiter

Es gibt sie auch im Arthouse-Sektor, hakenschlagende Werke, die man wegen kaum vorhersehbarer Handlung und unerwarteter Wendungen anschaut. Überraschungshungrige Abenteurfreunde seien daher gleich vorgewarnt: TOUR DE FRANCE gehört nicht dazu. Daß der Weg zum Ziel gerät, steht von Anfang an fest, wo selbiges sich zwischenmenschlich verortet, ebenfalls – und ja, das Ganze gerät mittenmang durchaus ins Holpern und Hoppeln. Regisseur/Autor Rachid Djaïdani übt noch, hat seinen erst zweiten Spielfilm geliefert, selbst im künstlerisch besonders wertvollen frankophonen Raum fällt nicht gerade regelmäßig ein Meister einfach vom Himmel, man muß da Nachsicht walten lassen. Doch, um den Bogen zu schlagen, warum Djaïdanis während seiner Lernphase entstandenem Trip folgen?

Um Gérard Depardieu zuzusehen, wie er wieder mal wundervoll den übellaunigen Obelix mimt. Grantig, rassistisch, kleinbürgerlich und offenbar geistig ziemlich dünnpfiffig. Viele kaum reizende Eigenschaften und dennoch eine poetische Lebensaufgabe: alle Hafenbilder Claude Joseph Vernets nachmalen. Etwas, das jener Serge irgendwann der Gattin versprach, das er schlicht tun muß. Depardieu spielt großartig bärbeißig eine oft in Tragikomödien diagnostizierte Krankheit aus – multipel entzündete Seele zu angebrochenem Herzen, ein Zustand, welcher sich durchs Abhusten garstiger Wortattacken Luft macht. Oder Serge, stark berührend, das Singen melancholischer Chansons vorgibt und Wuchtbrumme Depardieu am Herzen rüttelnde Sensibilität erlaubt. Djaïdani gelingt gleichzeitig deutlich und relativ wenig belehrend die unterschwellig schwelende Fragestellung, ob Serge wirklich ein Ekel ist, oder ihm bislang bloß niemand wirklich aufmerksam zuhören, auf Tauchgang in die Stinkstiefeligkeiten gehen wollte.

Serge, unser Maler i. R., kann bloß schlecht mit Sohn Bilal, seit dieser zum Islam konvertierte. Der Sprößling, ein Musikproduzent, betreut beispielsweise Rapper Far’Hook. Er wiederum muß nach einem idiotisch-mörderisch ausufernden Bandenstreit Paris verlassen, untertauchen. Bilal zählt 1 + 1 und engagiert Far’Hook als Papas Chauffeur von einer Vernet-Vorlage zur anderen. Der Rapper verschwindet von der Bildfläche, Serge kann die ersehnte Hafentour absolvieren, Bilal wiederum braucht sie trotz einstigen Versprechens nicht antreten. Praktisch Win-Win-Win!

Für den Zuschauer aus akustischer Sicht hingegen zwar streckenweise eher Nerverei, weil besagter Star leider nicht seine Klappe hält, ansonsten indes eine – inklusive eingangs erwähnter Aufforderung zur Güte – lohnenswerte Angelegenheit. Kein Spannungsaufbau, ein instabil dürrer roter Faden, vielmehr folgen Begegnungen, Stimmungen, Szenenwechsel einander, kontrastiert Djaïdani Postkartenimpressionen durch dokumentarische Einsprengsel. Da liegt halt mal ein per Handy abgelichteter toter Oktopus vor malerischer Kulisse: Man kann das zu Tode interpretieren, dramaturgisch ungelenk nennen – oder sich am optischen Bruch ergötzen, Freude empfinden, auch vor der Leinwand eine wechselnd derbe, sensible, intime, sperrige Reise zu erleben.

Depardieu selbst nennt sie: “Ein großer Film über Toleranz.” Dezent übertrieben, gehört zum Marketingtrommeln, aber das gesetzte Zeichen ist ungeachtet dessen u.a. dringend nötig, weil vor der Präsidentschaftswahl 2017 eine erschütternd dumme Kuh fanatisch blitzenden Blickes bereits ganz machttrunken mit dem rechten Klumphuf scharrt.

Originaltitel: TOUR DE FRANCE

F 2016, 95 min
FSK 12
Verleih: Arsenal

Genre: Tragikomödie, Roadmovie

Darsteller: Gérard Depardieu, Sadek, Louise Grinberg

Stab:
Regie: Rachid Djaïdani
Drehbuch: Rachid Djaïdani

Kinostart: 02.03.17

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...