Originaltitel: TULLY

USA 2018, 96 min
FSK 12
Verleih: DCM

Genre: Tragikomödie

Darsteller: Charlize Theron, Mackenzie Davis, Mark Duplass, Ron Livingston, Emily Haine

Regie: Jason Reitman

Kinostart: 31.05.18

8 Bewertungen

Tully

„ ... Mutter sein dagegen sehr“ – eine grandiose Bestandsaufnahme

Die typische Filmmutter wurde innerhalb von ungefähr 30 Sekunden entbunden, strahlt seither pausenlos wie der Morgen und reißt gerührt liebevolle Witze darüber, daß der gleichfalls dauergrinsende Gatte bei jedem Rülpser des Babies zu sofortiger Hilfe eilt, und der ältere Sprößling (aka großer Bruder) dem Geschwister (= schutzbedürftiges Schwesterchen) tolle Bilder malt oder vom gesparten Taschengeld Spielzeug kauft. Hach! Doch dann kam Marlo, und flöten ging das Postkarten-Idyll.

Marlos Sohn bezeichnen Externe gern als „eigen“, was bloß „eigenartig“ abkürzt und deutlich autistische Tendenzen meint. Die Tochter wirkt pflegeleichter, soweit man das über ein kleines Kind sagen kann, im Bauch strampelt dazu ein neuer Erdenbürger kurz vor der Geburt. Fremde alte Damen geben ungefragt Tips, der in seiner Arbeit und Videospielen aufgehende Mann scheint überflüssig. Marlos Zustand läßt sich unter einem Wort deckeln, und dieses lautet statt „Freude“ eben „Totalrundumerschöpfung.“

Nach erfolgter Niederkunft hängen Marlos Mundwinkel auf Kniehöhe, Bauch, Kinn und Brüste ziehen solidarisch mit, gefährliche Lage-Extremisierung droht. Ihr schnöseliger Bruder nebst Schwägerin (welche es hochschwanger kaum ins Fitneßstudio schaffte, die arme Seele) schenken ihr daher eine Nacht-Nanny. Die tut, wonach es klingt – nachts das Neugeborene versorgen. Anfangs beunruhigt und abweisend, lernt Marlo schnell die Vorzüge der blutjungen, etwa Kleidergröße 34 tragenden, fröhlichen und empathischen Tully schätzen, wohingegen der thrilleraffine Zuschauer ahnt: Da stinkt irgendwas, Tully trägt bestimmt Muttermord im Sinn, will die Familie übernehmen oder ähnliches! Tja: nö. Sie unterstützt Marlo. Sonst nix.

Wir ahnen, was Ihnen gerade durch den Kopf schießt: „Warum soll ich mir das angucken?!“ Nun, zum Beispiel, um erstaunt zu bemerken, wie sehr Charlize Theron schauspielerisch reifte. Da schießen tötende Blicke, sackt der Körper zusammen, greifen freudlos gebellte zynische Spitzen an, bevor sie regelrecht erblüht, sich zusammenrafft und eine um 180° gedrehte Frau modelliert. Das Singen allerdings ... egal.

Oder viel mehr noch, weil Diablo Cody, die schon höllisch starke (JUNO) und teuflisch schlechte (JENNIFER’S BODY) Drehbücher schrieb, vermutlich ihr frühes Meisterwerk abliefert. Cody zimmert eine bigotte Welt, deren Äußeres zur Fassade verkam, eine schillernd blubbernde Blase aus verordnetem Glück, gehüllt um ohne Alexa-Konkurrentin Siri praktisch verlorenes hohles Volk hier und Mütter als Übermenschen dort, deren irdische Aufgabe erfüllt ward. Jetzt kommt Aufzucht der Jungen, Schicht, aus. Nur, daß Marlos wunderbarer Querkopf da protestiert, eigenes Denken erlaubt, Kommentare zurechtschleift, an deren gallig-subversivem Witz sich der Geist schneidet. Und manchmal sogar blutet: derartiger Selbsthaß, zerplatzte Träume ...

Bevor Cody schließlich einen schnöden Kopfhörer zum rührenden Utensil und die gängige zur wahrlich ganz besonderen Liebeserklärung ummodelt (ein einziges getauschtes Wort macht den gigantischen Unterschied), stellt sie erst mal alles Gesehene komplett auf den Kopf, überrumpelt nachdrücklich. Dafür sorgt ein an der Brillanz kratzender Twist, dessen melancholische Poesie zum Ausklang mittels leiser Töne führt. Kein hingebogenes Eierkuchen-Ende, keine umwerfenden Veränderungen bar der Realität. Marlos Leben bleibt insgesamt, wie’s war. Aber das ist gut so.

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...