Man muß ein paar Schichten aus erlebtem Schmerz und zugelegten Schutzhüllen abtragen, um herauszufinden, was einen Menschen ausmacht und was die Beweggründe seines Handelns sind. Das britische Sozialdrama TYRANNOSAUR wühlt sich in einem mitreißenden Kraftakt durch die Schichten seiner Hauptfiguren und macht es sich selbst und dem Zuschauer dabei nicht leicht. Zum Glück, denn das Regie-debüt des Schauspielers Paddy Considine zeigt auf beeindruckende Weise, daß es keine einfachen Antworten gibt, und daß es eben Mühe kostet, zur Wahrheit vorzudringen.
Tyrannosaurus, das ist der Spitzname, den Joseph seiner Frau gegeben hatte, weil sie wegen ihrer Krankheit so dick geworden war. Übersetzt bedeutet das Wort soviel wie König oder Despot und trifft damit viel eher auf Joseph selber zu. In der ersten Szene des Films erschlägt der seinen Hund. Es ist Josephs Art, mit seinen Mitmenschen umzugehen. Er verletzt sie, oft ungewollt, und bleibt danach allein zurück. Dann erschreckt er über das Ausmaß seiner Wut, die er einfach nicht in den Griff bekommt. Peter Mullan spielt diesen Joseph einfach brillant. Seinen Kampf mit sich selbst, die Qual des täglichen Versuchs, seine Dämonen zu bändigen und doch nur immer wieder zu scheitern, bringt er mit einer atemraubenden Intensität auf die Leinwand. Die Kamera taucht ihn und sein Haus dabei in ein eisig blaues Licht. Einen Himmel gibt es nicht über seiner Welt, stattdessen lastet ein gleißend weißes Nichts über den heruntergekommenen Häusern dieses Viertels.
Der Film verzichtet auf den üblichen Sozialrealismus der Videofarben und Handkameras und findet mit seinen präzise inszenierten Einstellungen eine ganz eigene und sehr genaue Wahrheit. Und die kommt immer wieder überraschend, aber glaubhaft aus einer Richtung, die man nicht vermutet. Nachdem Joseph bei einem Streit einen Teenager zusammengeschlagen hat, flüchtet er in das Geschäft von Hannah. Die warmherzige, verheiratete und gläubige Frau aus dem schicken Reihenhausviertel im Norden weiß, daß hinter der Wut und den Beleidigungen, mit denen Joseph um sich wirft, eine tiefe Verletzung steht. Und sie weiß das nicht von ungefähr.
Der Film folgt ihr an diesem Punkt nach Hause, in ihr scheinbar perfektes Leben. Doch auch hier liegt einiges verborgen. Und wie Olivia Colman das spielt, was der Film in der nächsten Stunde erzählt, wird man lange nicht vergessen.
Originaltitel: TYRANNOSAUR
GB 2011, 91 min
Verleih: Kino Kontrovers
Genre: Drama, Psycho
Darsteller: Peter Mullan, Olivia Colman, Eddie Marsan
Stab:
Regie: Paddy Considine
Drehbuch: Paddy Considine
Kinostart: 27.10.11
[ Marcel Ahrenholz ] Marcel mag Filme, die sich nicht blind an Regeln halten und mit Leidenschaft zum Medium hergestellt werden. Zu seinen großen Helden zählen deshalb vor allem Ingmar Bergman, Andrej Tarkowskij, Michelangelo Antonioni, Claude Sautet, Krzysztof Kieslowski, Alain Resnais. Aber auch Bela Tarr, Theo Angelopoulos, Darren Aronofsky, Francois Ozon, Jim Jarmusch, Christopher Nolan, Jonathan Glazer, Jane Campion, Gus van Sant und A.G. Innaritu. Und, er findet Chaplin genauso gut wie Keaton ...