D/F 2020, 115 min
FSK 12
Verleih: Piffl
Genre: Drama, Mystery, Liebe
Darsteller: Paula Beer, Franz Rogowski
Regie: Christian Petzold
Kinostart: 02.07.20
Bewegt sich die Landschaft? Bewegt sich der Betrachter? Wer seine Nase jemals an ein Zugfenster drückte und die Verunsicherung des Blicks genoß, gehört zum Expertenkreis für das Verwunderungspotential der Kinematographie. Die Filme von Christian Petzold erinnern an die Anziehungskraft solcher Verunsicherungen – und wie absichtsvoll sie sich entfesseln läßt. Er macht Filmkunst, deren Zeitwert nicht verfällt. Auch sie kommt von Können, aber genauso sehr von einer kultivierten Durchlässigkeit für die Ungeheuer und das Ungeheure im Stinknormalen. Nach all seinen preisgekrönten Arbeiten, nach der überragenden Anna-Seghers-Aneignung TRANSIT steigt nun eine Meerjungfrau aus der Unterwelt der Mythen und Literaturen ins Petzold-Universum hinauf – und wird dort einer seiner Prüfungen auf, na ja, nennen wir es Geistergegenwart, unterzogen.
Undine, die sagenhafte verratene Verführerin, heißt hier vollständig Undine Wibeau. Sie gehört zu jenen prekär beschäftigten Wurzellosen in hochprofessioneller Aufmachung, für die Berlin mindestens so berühmt ist wie für schicke Schäbigkeit. Routiniert führt sie Interessierte in die Stadt- und Architekturgeschichte ein, erläutert sie an Berlin-Modellen en miniature. Vor Dienstbeginn, genaugenommen vor Filmbeginn, trifft sie „ihren“ Johannes auf dem Freisitz „ihres“ Cafés. Er habe jemanden kennengelernt, sagt er. Tja, so spielt das Leben. Aber wie spielt eine abservierte Frau, die mit mythischen Wassern gewaschen ist? Sie erwidert: „Wenn Du mich verläßt, muß ich Dich töten.“ Und doch wird daraus eine, freilich gefährdete und gefährliche, Liebesgeschichte. Denn im Gastraum des Cafés steht schon der Industrietaucher Christoph parat, dem Undine so rasant verfällt, daß einem das zerberstende Aquarium im Hintergrund, die plötzlich auf dem Trockenen liegende Deko-Statuette fast entgangen wären.
Dabei müßte doch bekannt sein, daß man Petzolds Filme keine Sekunde lang aus den Augen lassen darf. Daß jede Winzigkeit, jedes Miniaturmodell, jeder wasserblaue Vorhang vor Plastikfensterrahmen, jeder Bee-Gees-Song in der übernächsten Szene eine kritische Masse auszubilden vermag, die (Be-)Deutungsberge versetzt. Und daß das „bewegte Bild“ angestoßen werden will, immer wieder aufs Neue. Damit es wirklich ins Laufen, ins Zusammenschauen, in ein Momentanes kommt, das eine Vergangenheit hat.
[ Sylvia Görke ]