Annekatrin Hendel hat ein Problem. Sie möchte einen Film machen über den DDR-Schriftsteller Paul Gratzik, aber ihr Protagonist windet sich wie ein Aal. Der 75Jährige ist ein unglaublicher Geschichtenerzähler, ein Chamäleon, ein Gigolo und auf alle Fälle ein begnadeter Schauspieler. So füllen schließlich vor allem Gratziks eloquente Ausweichmanöver den Film. Doch tief unten unter den Wortkaskaden liegt eine Geschichte des Verrats.
Paul Gratzik beginnt sein Erwachsenenleben als Malocher und startet in den 60er Jahren in der DDR einen unglaublichen Aufstieg. Er beginnt zu schreiben und wird Geliebter der Volksbühnenschauspielerin Steffi Spira, die ihn in die Intellektuellenszene der DDR einführt. In dieser Zeit lernt er Heiner Müller und viele andere Granden der damaligen „Intelligenzia“ kennen und entscheidet sich, mit der Stasi zusammenzuarbeiten und als IM Peter Berichte über seine Freunde zu verfassen. Solche Geschichten gibt es viele. Doch Gratziks Biographie hat noch eine ganz besondere Wende: 1981 brach er mit der Stasi, wohl wissend, daß er damit seine literarische Karriere beendete und seinen Freundeskreis zu verlieren drohte. Er wurde zum doppelten Verräter, dem am Ende wenig von seinem Ruhm geblieben ist. Und so erzählt er Geschichten.
Hendel ist in einer Zwickmühle. Sie will den alten Mann zur Wahrheit zwingen, aber er setzt alles daran, ihr genau die zu verweigern. Doch er ist ein einsamer alter Mann, und Hendel weiß, wie sie sich unverzichtbar machen kann, sie schleppt seine Einkäufe, schiebt Kohlen in den Ofen und läßt die selbstgerechten Litaneien des alten Kauzes stundenlang über sich ergehen. Sie bietet ihm die Bühne und fungiert als Publikum, sie gibt ihm das, was er so lange vermißt hat. Nebenbei formuliert sie ganz penetrant immer wieder die gleiche Frage: „Warum hast Du Deine Freunde verraten?“ Eine echte Antwort bekommt sie nicht, dafür allerdings das Psychogramm eines gebrochenen Mannes, der in seinem Leben viele problematische Entscheidungen getroffen hat und sich energisch dagegen sträubt, diese von Hendel filmisch aufarbeiten zu lassen.
Und nach gefühlten drei Stunden Gratzik weiß man schließlich nicht mehr, welches Gefühl beim Zuschauen überwogen hat: die Wut über diesen unglaublich egozentrischen Karrieristen oder das Mitleid mit dem alten, einsamen Mann, dem Hendel ihre dokumentarische Pistole auf die Brust gesetzt hat.
D 2011, 103 min
FSK 0
Verleih: Salzgeber
Genre: Dokumentation, Biographie
Regie: Annekatrin Hendel
Kinostart: 20.10.11
[ Luc-Carolin Ziemann ] Carolin hat ein großes Faible für Dokumentarfilme, liebt aber auch gut gespielte, untergründige Independents und ins Surreale tendierende Geschichten, Kurzfilme und intensive Kammerspiele. Schwer haben es historische Kostümschinken, Actionfilme, Thriller und Liebeskomödien ... aber einen Versuch ist ihr (fast) jeder Film wert.