Originaltitel: VERA DRAKE
GB 2004, 125 min
Verleih: Concorde
Genre: Drama, Schicksal
Darsteller: Imelda Staunton, Richard Graham, Eddie Marsa
Regie: Mike Leigh
Kinostart: 03.02.05
London 1950. Vera Drake ist klein und gebückt. Vielleicht von der Last ihrer regelmäßigen Hausbesuche. Nach dem Putzen in reichen Haushalten steigt sie finstere Treppenhäuser hinauf in die engen Wohnungen der Arbeiterklasse und versorgt die Kranken mit "noch einem Teechen". Sie lädt den einsamen Nachbarn zum Abendessen ein und verkuppelt ihn mit der verhuschten Tochter, die sonst nie zu einem Mann käme. Ihr eigener Mann, ein braver Autoschlosser, ist stolz auf sie. Die Familie hat sich in einem bescheidenen Glück eingerichtet. Keiner ahnt, was die unscheinbare Vera seit vielen Jahren noch tut: mit mittelalterlich anmutendem Werkzeug verpaßt sie "Frauen in Nöten" Einläufe aus Seifenwasser. Illegale Abtreibung heißt das in den Worten des Gesetzes, Vera selbst könnte niemals darüber reden, für sie ist es ein selbstverständlicher Pragmatismus. Sie tut es einfach, freilich ohne sich der Folgen bewußt zu sein.
Die Familie ist bei Mike Leigh die Keimzelle der Gesellschaft. Dabei versteht er es wie kein anderer, individuelle Schicksale mit gesellschaftlich brisanten Themen zu verknüpfen und die größtmögliche Emotionalität zu erzielen. Ausgerechnet zum Verlobungsessen klopft die Polizei an und verhaftet Vera vor den Augen der um Fassung ringenden Familie. Fassungslos verfolgt auch das Publikum die Tragödie. Während des Gerichtsprozesses wird der Zusammenhalt der Familie auf die Probe gestellt und Veras Tat zur moralischen Diskussion. Leigh urteilt nicht und hütet sich vor Schwarz-Weiß-Malerei, doch es wird deutlich, auf wessen Seite er steht: auf der Seite der sozial Benachteiligten, die ihre Probleme nicht mittels Kontakte und Geld lösen können, und auf der der Frauen.
Zugleich ist der Film ein präzises Zeitporträt der frühen 50er Jahre, deren Biederkeit und gestelzte Artigkeit auch für Humor sorgt. Genau so sensibel wie mit dem Zeitgeist wird mit den Figuren umgegangen. Stets hat man das Gefühl, sie ganz nahe zu erleben und muß einfach mitfühlen. Nicht zuletzt auch dank der großen schauspielerischen Leistung von Imelda Staunton, die hinter der eisernen Güte der Vera Drake schließlich auch die Zerbrechlichkeit der Figur freilegt.
Mike Leigh zeigt eindrucksvoll, daß sozial engagierter Naturalismus und große Gefühle sich nicht ausschließen. Als echter Autorenfilmer schert er sich dabei nicht um dramaturgische Standards, sondern entwickelt seine eigenen filmischen Gesetze. Wer jetzt Angst vor zu schwerer Kost bekommt, sei beruhigt. Schon die ersten Einstellungen nehmen den Zuschauer an die Hand und lassen ihn nicht mehr los. Das war dem Filmfestival Venedig den Goldenen Löwen wert.
[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...