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Vergissmichnicht

Besser als ein Tagebuch: Briefe an sich selbst

Es gibt wohl nur wenige Menschen, die sich nicht wünschen, manchmal jemand anderes zu sein. Margaret übertreibt den Identitätenwechsel allerdings ein wenig. In ihrem Schreibtisch schlummern Fotos diverser prominenter Damen, und je nach Tagesform sieht sich die Karrierefrau zum Beispiel als Maria Callas, Marlene Dietrich oder Ava Gardner. Kein Wunder, daß Margaret beim Vernachlässigen der eigenen Persönlichkeit irgendwie zur Zicke mutierte. Ihr 40. Geburtstag, globales weibliches Schrecknis, hebt die Laune auch wenig.

Und dann steht schließlich noch dieser nervige alte Notar Mérignac auf der Matte, um Margaret Briefe zu übergeben! Zwar läßt sie ihn erst abblitzen, öffnet schließlich aber doch den ersten Umschlag – und damit die Erinnerungsbüchse. Denn vor 33 Jahren übergab die kleine Margaret (damals noch unter dem aus Geschäftsgründen bald geänderten Landei-Namen „Marguerite“ bekannt) Mérignac eben jene Schriftstücke mit dem Auftrag, sie genau jetzt zuzustellen. Das damalige Kind wollte der heutigen Erwachsenen schöne Dinge ins Gedächtnis rufen, außerdem nicht zuletzt hinterfragen, wie es nach all der Zeit um die Treue zu sich selbst steht. Doch hat Marguerite, das Mädchen, überhaupt noch Platz im Leben Margarets, der kühlen Managerin?

Man muß schon sagen: Der deutsche Starttermin könnte cleverer kaum gesetzt sein, weil diese sowieso rührende Geschichte im Endjahres-Seligkeitsgefühl-gute-Vorsätze-Rausch gleich doppelt zu Herzen geht. Und exakt dort gehört sie einfach hin mit ihren kunterbunten Animationseinlagen, Marguerites von „Heilige“ bis „Walärztin“ reichlich schräg scheinenden Berufswünschen oder Margarets Aufholen allerlei infantiler Erledigungen. Es macht ganz simpel Heidenspaß zuzusehen, wie die kontrollierte Businessfrau plötzlich eine abwärts fahrende Rolltreppe hinaufrennt, weil es ein Brief verlangt.

Zwar sind da ebenfalls allerlei Klischees zu vermelden, und wirken ernstere Ausflüge in kindliche Nöte ziemlich zwanghaft aufgepropft, während der Plot immer häufiger die Schwelle zum Kitsch streift, manchmal gleich überschreitet. Aber warum denn nicht?! So charmant zu erleben, weshalb die Kindheit das im Originaltitel gepriesene „Alter der Vernunft“ ist, kompensiert jede Schwäche. Zumal man der begeistert aufspielenden Sophie Marceau nur zu gern glaubt, wenn sie konstatiert: „Ich habe mir selbst gefehlt.“

Originaltitel: L'ÂGE DE RAISON

F 2010, 89 min
FSK 0
Verleih: Schwarzweiß

Genre: Komödie, Poesie

Darsteller: Sophie Marceau, Marton Csokas, Michel Duchaussoy, Jonathan Zaccaï, Emmanuelle Grönvold

Regie: Yann Samuell

Kinostart: 30.12.10

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...