Mensch, war das putzig, als die großen Jungs vom Feuilleton und deren kindliche Epigonen in ihren Blogs und Kommentaren nach der Premiere von VICTORIA auf der diesjährigen Berlinale ganz emsig nur von einer Sache schrieben und tippten, quatschten und zwitscherten. Natürlich von einer technischen Sache, wie sich das bei nicht erwachsen werden wollenden Jungs ganz häufig so gehört. Gemeint ist die Schnittfreiheit von Sebastian Schippers – warum unnötige Umschweife? – grandiosem Film, das Wiederkauen des Marketinggeblökes vom Dreh in Echtzeit, in nur einer Einstellung.
Was all die staunend klatschenden Technikanten dabei vergaßen, war, daß dies, so ausdauernd formuliert, ein wenig angeberisch wirkt, und daß ein derart einstellungsverknappter und schnittfreier Film obgleich selten, aber eben auch nicht zum allerersten Mal in der Filmhistorie vorkommt. Und selbst wenn. Viel ärgerlicher war doch, was bei aller Erbsenzählerei und Technikverliebtheit die Nachplappernden nicht erkannten: die archaische Wucht einer Geschichte, die von Essentiellem, von echter Freundschaft und zarter Liebe, wilder Freiheit und unvermeidlicher Unvernunft, von unbedingtem Überlebenswillen und absolutem Kontrollverlust erzählt. Ihnen blieben die Kraft, ja, der Wahnsinn des Films scheinbar verborgen. Derartige Qualität generiert sich natürlich zwangsläufig auch aus dem ohne Einschränkung Respekt einfordernden formalistischen Ansatz, aber beileibe nicht nur.
Ganz im Gegenteil: Sebastian Schipper hat 16 Jahre nach dem kongenialen ABSOLUTE GIGANTEN tatsächlich das inszenatorische Kunststück fertiggebracht, einen atemlosen Bauchfilm auf die Zuschauer loszulassen, den sie garantiert nicht wieder vergessen werden. Wie Schippers Debüt, in völlig anderem Rhythmus zwar, aber mit gleicher Kraft erzählt, ist auch VICTORIA ein handfester Ritt durch die ausdunkelnde Nacht, auch hier wird geradezu tänzerisch von Freundschaft und Freiheit, von Abschied und Ausbruch erzählt. Wobei in VICTORIA aus dem anfänglichen Tanz ein ganz fatales Taumeln wird, eines, das man sowieso nicht klein-klein nacherzählen sollte, das der Zuschauer offenen Mundes selbst bestaunen soll. Mit hohem Puls geht es los, im Club, besser mit dem Rausschmiß aus diesem. Man könnte doch, wie wäre es, noch was vor? Victoria schlägt ein und heftet sich an die Fersen von Sonne und seiner Gang, vier irgendwie noch infantile, dabei ganz schön auf dicke Hose machende Jungs, die zwar nach Schweiß, Kippe und Billigbier, aber eben auch nach einer großen Sehnsucht riechen, denen einfach etwas Unberechenbares anpappt. Wahrscheinlich ist es das, was Victoria anmacht, was ihre Zweifel wegspült, die Jungs versprechen Spaß. Wildheit. Leben eben.
Sie albern, sie trinken, sie liegen auf dem Dach, sie flirten, sie flüstern und schreien. Als Victoria sich schon verabschiedet hat, kommt Sonne zurück, ob sie nicht helfen könne. Nur das Auto soll sie fahren. Schipper erzählt dann aber von einem Bankraub, von Chaos und Koma, von Koks und Rotz, und letztendlich wird aus einer auf den zu raschen Blick „normalen“ Liebes- und Ganggeschichte ein Sehgewohnheiten über Bord werfendes, überlebensgroßes Epos, das seinesgleichen sucht. Voller Jugendbreitbeinigkeit und Großstadthitze, mit fiebrigen Kammerflimmern und klatschnassen Adrenalinausstößen. Da schwingt New Hollywood mit, der ganz junge Kassovitz auch, vor allem aber Schipper.
Und der läßt Licht in das dunklere Herz Berlins strömen, ohne Schick, ohne Schnörkel, er verschafft dem Zuschauer ein hypertonisches, rauschhaftes Ausnahmeerlebnis, eine Achterbahnfahrt vom Blödeln ins Kotzen, vom Küssen zur Röchelatmung, von Übermut zur reinen Angst. Das, was die bis eben recht behütet wirkende Victoria in den wenigen Stunden durchleben wird, ist echt Bigger Than Life!
Das ist der Film, den das deutsche Kino dringend brauchte, um sich seiner doch unstrittigen Möglichkeiten zu erinnern, um mal die ewige Nabelschau zu vergessen, diese anstrengenden Innenansichten, diese häufig drögen Lehrveranstaltungen und Fingerübungen. VICTORIA steht für den Frischetest im Kino, ein einziges Kraftzentrum, das mit Charme und großer Fresse, mit Ausdauer und Kompromißlosigkeit zeigt, was geht, wenn nur alles klappt: Wenn eine wahnwitzige Idee greift, wenn eine Geschichte gleichsam rauh und zärtlich ist, wenn Schauspieler Platz bekommen und ja, auch dann, wenn Technik richtig Sinn hat und sich nicht als bloßes Mätzchen entpuppt.
Daß der Film so heftig auf der Brust drückt, liegt auch und vor allem an den Figuren, deren Leben mit einem Bums vom Spaßigen ins Infernalische kippt. VICTORIA sympathisiert unverhohlen mit derart echten Typen, die so was von weit weg von der albernen Moccacino-Hipster-Hampelei all jener Möchtegernberliner entfernt sind.
Und wenn man nach dem Film mit feuchten Händen den Saal verläßt und nach irgend-einem klaren Gedanken sucht, fällt einem erst einmal nur ein, daß diese Victoria, dieses erstaunliche, über sich hinauswachsende rehäugige Mädchen aus Spanien, keine Siegerin im namentlichen Sinne sein kann. Sie hat einfach zu viel gesehen. Und die, die wie die Buchführer auf die komplette Schnittfreiheit glotzten, definitiv zu wenig.
D 2015, 139 min
FSK 12
Verleih: Senator
Genre: Drama
Darsteller: Laia Costa, Frederick Lau, Burak Yigit, Max Mauff, André Hennicke
Regie: Sebastian Schipper
Kinostart: 11.06.15
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.