In den Bergen von Kalabrien, dort, wo der Wald am dichtesten steht, hat Michelangelo Frammartino ein Experiment durchgeführt. Nicht nur, daß er die Wirkung des überwältigend schönen, vom Zierrat der Moderne weitgehend verschont gebliebenen Ortes auf sich selbst einer neuerlichen Prüfung unterzog (Sie hat bestanden!). Hauptsächlich hatte er einen Film im Sinn, der die Verhältnisse wieder geraderückt, der das humanozentrische Weltbild der Kinematographie (man könnte auch sagen: die etwas anstößige Affenliebe des Filmkünstlers zu seiner eigenen Spezies) hinter sich läßt und stattdessen Landschaft, Tiere, Wind und Sonne in Hauptrollen besetzt.
Nun werden Sie sagen, der junge Regisseur käme ein bißchen spät, die Naturdokumentation sei längst erfunden. Und Sie hätten damit sogar recht. Aus filmpoetischer und naturphilosophischer Sicht sieht die Sache allerdings anders aus. Denn Frammartino flieht die Menschen nicht, indem er sich wie MIKROKOSMOS auf den Boden legt oder wie NOMADEN DER LÜFTE in den Himmel aufsteigt. Er will die ganze Geschichte – mit Mann und Maus. Sie beginnt mit einem greisen Ziegenhirten, der Kirchenstaub gegen seine Krankheit schluckt und den nahenden Tod doch nicht aufhalten kann, geht über in die kurzbemessene Lebenszeit eines Zickleins, das unter einem Baum verendet. Sie folgt einer riesigen geschlagenen Tanne, die von einer Schar ameisenhaft anmutender Helfer ins Dorf gebracht, aufgerichtet und geschmückt wird. Sie begleitet ihre Überreste zu den Köhlern, wo sie zu einem Meiler zusammengesetzt werden – würdig und gottesdiensthaft wie eine Kathedrale.
Wer hier eine letzte Ruhestätte vermutet, der irrt. Denn die Natur ruht nicht, sie verwandelt sich nur. Für die Idee einer jeder Hierarchie trotzenden Seelenwanderung ist Frammartino ein filmisches Gleichnis gelungen, das sicher einiges an Versenkungskraft verlangt, aber eben auch unmittelbar einleuchtet und poetisch betört: voll von dickflüssiger Luft, in der Staub-partikel tanzen, untermalt von einem dumpfen Raumton, der zwischen Geräusch und Stille oszilliert, durchläutet von Ziegen- und Kirchenglocken, überragt von solitären Bildkompositionen, in denen der Mensch auf eine handhabbare Größe zusammenschrumpft. Und das ist manchmal sogar komisch.
Originaltitel: LE QUATTRO VOLTE
I/D/CH 2010, 88 min
Verleih: NFP
Genre: Natur, Poesie
Darsteller: Giuseppe Fuda, Bruno Timpano, Nazareno Timpano
Stab:
Regie: Michelangelo Frammartino
Drehbuch: Michelangelo Frammartino
[ Sylvia Görke ]