Viktor Kossakovsky hat zehn Regeln für den Dokumentarfilmemacher aufgestellt. Regel Nummer 2 besagt: Filme nicht, wenn Du etwas sagen willst. Dann sage oder schreibe es. Filme nur, wenn Du etwas zeigen willst oder möchtest, daß die Menschen etwas sehen. Das betrifft den Film als Ganzes, aber auch jede einzelne Einstellung. Kossakovskys antipodische Reise muß schon deshalb unbedingt auf großer Leinwand, in der Stille eines Kinosaales genossen werden. Denn es braucht die Wucht der Bilder und Alexander Popovs Musik in gänzlicher Bombastik, damit sich Pathos und Melancholie voll entfalten können.
Die Idee Kossakovskys ist simpel und genial, doch in der Umsetzung nicht so einfach: Man finde ideale Filmorte mit einem Gegenüber, rund 12.756 Kilometer kerzengerade durch die Erde hindurch, welche nicht nur aus Wasser bestehen. Und die in ihrer Gegensätzlichkeit Geschichten erzählen. Da sitzen die beiden Brüder in der Region Entre Ríos in Argentinien vor ihrem Häuschen und reden über das Wetter. Sie betreiben eine Fähre, aber nur ab und an kommt jemand, der sie benutzen möchte. Meist ist es so trocken, daß die Fähre als Brücke dient.
Kossakovsky läßt einmal seine Kamera und damit die Erde drehen, und wir springen kopfüber in das Straßennetz von Shanghai, das aus dieser Perspektive zur ästhetischen Neuentdeckung wird. Wir tauchen ein in die Massen von Menschen, die hier über die mit ihren 16,63 Kilometern längste Brücke der Welt zur Arbeit eilen. Sie führt über den Jangtsekiang. Dann befinden wir uns in Patagonien, verbringen Zeit mit einem Einsiedler und seinen Tieren. Seine Antipodin heißt Tatjana und lebt auf einem abgeschiedenen Hof am Baikalsee. Kossakovsky montiert mit seinen Bildern eine zarte Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen, die sich nie begegnen werden. Dann läßt er die Haut eines Elefanten aus Kubu, Botswana in schwarze, glänzende Lava übergehen. Wir befinden uns jetzt auf der anderen Seite der Erde, auf Hawaii.
Kossakovksky scheut nicht die offensichtliche Symbolik von Brücken und Flüssen, von alles verschlingenden Lavamassen, einem gestrandeten Wal. Den er mit einem uralten spanischen Felsbrocken, auf dem sich ein zarter Schmetterling entpuppt, spiegelt. Er setzt wohlkomponiert bildhafte Gedankensplitter in die Welt, Entschleunigung, Einsamkeit, Besitz, Fortschritt und Zerstörung, die sich zu einem fulminanten emotionalen Seherlebnis formen.
Originaltitel: ¡VIVAN LAS ANTIPODAS!
D/NL/Argentinien 2011, 108 min
FSK 0
Verleih: Farbfilm
Genre: Dokumentation
Regie: Viktor Kossakovsky
Kinostart: 26.04.12
[ Susanne Schulz ]