"Ich fiel zu Boden, Voltaire ist schuld, die Nase im Rinnstein, schuld ist Voltaire..." läßt Victor Hugo den sterbenden Gavroche auf der Barrikade singen. Ein Ausgestoßener, ein Kämpfer, kein Opfer.
Eine harte, eine vielschichtige Thematik hat sich der Franzose Abdel Kechiche für seinen grandiosen Regieerstling gewählt, und dennoch muß das Hohelied auf den französischen Film ausbleiben. Ein derartiges Feingefühl für Motivationen, schmerzhafte Situationen und schwierige Charaktere kann nur individueller Natur sein. Zumal der Regisseur in Tunis geboren wurde. Genau wie sein Held Jallel.
Der kommt nach Paris, gibt sich als Algerier aus, die bekommen schließlich viel leichter Asyl. Und bis sein Antrag genehmigt ist, hält er sich mit Diebstahl und dem Verkauf von Gemüse und Rosen über Wasser, lebt im Übergangswohnheim. Hier lernt er Franck kennen, der schnell zum Freund wird und ihm auch Mut macht, als sein Asylantrag vorerst abgelehnt wird. In einem Café begegnet Jallel der schönen Nassera, die sich allein mit Sohn Kevin durchschlägt. Sie ist verbittert, vertraut keinem Mann mehr und doch erglüht ein Funken Interesse. Annäherung. Begierde. Schließlich ein Geschäft: Sie heiratet Jallel, verschafft ihm somit eine Aufenthaltsgenehmigung - wenn er bezahlt. Doch vor dem Traualtar läßt Nassera den Hoffenden stehen, raubt ihm seine letzte Chance. Er bricht zusammen und wird mit schwersten Depressionen in die Psychiatrie eingewiesen.
Kechiche geht es augenscheinlich nicht um ein schwarz-weißes Opferschema. Im Gegenteil: nach allem Unglück beschert er Jallel in der Psychiatrie eine märchenhaft-irritierende Elfe: Lucie. Sie schlaucht Kippen, wo sie kann, schläft für 20 Francs mit jedem (weil es ihr Spaß macht, sagt sie) und tut auch sonst nur genau das, was sie will und ohnehin kein anderer versteht. Jallel weist sie ab, wird später "geheilt" entlassen und steht wieder am Anfang seiner Bemühungen. Lucie aber hat sich in den schweigsamen Schönen verguckt, heftet sich heimlich an seine Fersen und wird ihn verzaubern ...
Die Leistung von Elodie Bouchez als sexuell eigenwillige Lucie geht durch Mark und Bein, und Sami Bouajila als Jallel ist schlichtweg ein Glücksgriff. Dieser Film ist ein wildes, melancholisches und vor allem bitter ehrliches Wunder.
Originaltitel: LA FAUTE À VOLTAIRE
F 2000, 129 min
Verleih: Kool
Genre: Drama, Liebe
Darsteller: Elodie Bouchez, Sami Bouajila
Regie: Abdel Kechiche
Kinostart: 18.07.02
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