Auf die 90 geht er zu, was einem Respekt abringt. Einen Alte-Leute-Bonus kriegt Alain Resnais trotzdem nicht – den braucht er auch nicht. Denn mit VORSICHT SEHNSUCHT hat er zwar einen reichlich eigenwilligen Film gemacht, aber dennoch dreht er mit dessen Verve, Komplexität und Fabulierfreude jüngeren Kollegen noch immer eine Nase. Nachzusehen ist ihm, daß er ein wenig Zeit braucht, um uns in die Geschichte einzuführen, eine Geschichte über Träume und Ängste von Menschen im – wie man so ein wenig gönnerhaft-spöttisch sagt – besten Alter.
Also irgendwo zwischen 50 und 60, dieses merkwürdige Zwischenreich von Menopause und Prostatabeschwerden. Ja, ja, es ist auch eine Geschichte über sexuelles Begehren, das ja nicht automatisch endet, wenn man erstmals ernsthaft über Pensionsansprüche reflektiert. Auftakt ist ein Diebstahl. Marguerite wird dreist die Handtasche entrissen, was die erfolgverwöhnte Zahnärztin derart irritiert, daß sie die schicken Marc-Jacobs-Schuhe zurück ins Geschäft bringt. Einen Großteil des Inhalts der Handtasche findet Georges – und ist fortan fasziniert von dieser Frau, die einen Pilotenschein hat und eine Frisur trägt, die schwer nach Stromschlag aussieht. Was tun? Diese Frage stellen sich beide: Anzeige oder nicht, Fundabgabe oder nicht, anrufen oder nicht? Sie werden sich in jedem Fall begegnen, mehr oder weniger intensiv, noch mehr oder noch weniger interessiert an einer Fortführung ihrer unfreiwilligen Bekanntschaft, bis diese Liaison schließlich etwas Getriebenes, Obsessives und dabei geradezu Komisches bekommt.
Es ist ohne Frage ein kauziger Film geworden, was in Ordnung geht, schließlich erzählt er von Käuzen. Es ist aber auch ein philosophischer Film – mit Tiefenreflexionen über den Sinn vom Duzen, von Zufällen und Brieftaschen, von traurigen Gesichtern und ewigen Kompromissen beim Kauf neuer Schuhe. Wer kennt’s nicht, möchte man meinen, aber Resnais verleiht seinem Paar wider Willen durch deren bruchstückhafte Konversation und skurrile Spleens durchaus einen Hauch Surrealismus. Dazu passen fabelhaft die widersprüchlichsten Reaktionen in beiden Lagern, ein geradezu anarchischer Briefverkehr, die Leidenschaft Georges’ für steinalte Kriegsfilme sowie das Zerschlitzen von Autoreifen. Ein hämisch grinsendes „Pourquoi?“ schwebt im Raum, wie ohnehin alles zu schweben scheint in diesem Film, dem man schon ein gewisses Maß an Kühnheit nachsagen muß, oder besser seinem Schöpfer. Einen derart kryptisch-romantischen, schrullig-verkopften und geradezu besessen-leidenschaftlichen Film zu drehen, in der heutigen Zeit, grenzt schon an bestaunenswerter Dickschädelei. Letztendlich geht es um das Unvermeidliche, um Scham, Verletzungen, Angst, Altern und – klingt widersinnig, ist es aber nicht – um das Schöne daran.
Wer kann solche Figuren spielen? Genau jene, die Resnais verpflichtet hat: Sabine Azéma als lebenswilde Spitfire-Fliegerin, als lacklederne Dentistin in der Rotfalle (Ihre Frisur tut wirklich weh!) und der unverwüstliche André Dussolier in einer seiner sicherlich facettenreichsten Rollen. Und der beiden und des Films wegen gilt uneingeschränkt: Wer keine Angst hat vor unausgetretenen Wegen, wer das Kino liebt, wer mit einigem Spaß und ein bißchen Würde dem Altern entgegen sieht, der kann nur lachen, wenn es aus der Popcorn-Ecke der Eskapisten mal wieder ruft: Vorsicht, Filmkunst!
Originaltitel: LES HERBES FOLLES
F 2009, 104 min
FSK 12
Verleih: Schwarzweiß
Genre: Komödie, Drama
Darsteller: Sabine Azéma, André Dussollier, Anna Consigny, Emmanuelle Devos, Mathieu Amalric
Regie: Alain Resnais
Kinostart: 22.04.10
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.